Die Gewinnspielanalogie hat gezeigt, dass keine Entscheidung, die sich an der Maximierung eines Erwartungswertes* orientiert, irgendwelche Werte verändert. Ob es dabei um die Maximierung des Erwartungswertes eines monetären Gewinns oder der Anzahl geretteter Menschenleben geht, spielt für diese einfache Erkenntnis keine Rolle. Der Wert ist hier jeweils ein im voraus gesetzter, fixer Parameter, der die Entscheidung beeinflusst und nicht umgekehrt. Wurden die Werte wie in meiner Analogie oder durch das Grundgesetz genau gleich gesetzt, hängt die Entscheidung nach dem Erwartungswert logisch zwingend nur noch von der Wahrscheinlichkeit ab. Ich selektiere also bei einer Triage nach Wahrscheinlichkeit, weil jedes Menschenleben den gleichen Wert hat. D.h. die Gleichwertigkeit menschlichen Lebens wird durch das Selektionsprinzip nach Überlebenswahrscheinlichkeit nicht in Frage gestellt, sondern ist im Gegenteil seine Voraussetzung. Und das gilt selbstverständlich auch in Deinem Zugbeispiel.
* Der Erwartungswert ist das Produkt von Wert und dessen Realisierungswahrscheinlichkeit
Hier werden wir uns nie einig sein. Ich halte deine Entscheidung auch für höchst unmoralisch. Denn beide Personen würden mit dem Eingreifen mit Sicherheit überleben, du riskierst aber das Leben eines Unschuldigen, um das Leben einer Person zu retten, die sich freiwillig in diese Situation gebracht hat.
(Ich hatte btw. einen Zahlendreher im Beispiel. Mein Fehler. Die Überlebenswahrscheinlichkeit des Gleisarbeiters müsste, wenn ich deine Moral nun richtig einschätze, höher sein, damit du sein Leben aufs Spiel setzt, um den Tiktoker zu retten)
Aber ich kann deine Moral gerne noch weiter prüfen: Du hast auf dem Gleis keinen Tiktoker, sondern einen Menschen, der Suizid begehen will. Er stirbt zu 100 %, wenn du auf ihn zufährst. Der Gleisarbeiter stirbt nur zu 80 %. Wenn du also die Weichen Richtung Gleisarbeiter stellst, hast du eine Chance, dass beide überleben. Würdest du das Risiko eingehen?
Extrembeispiele sind in der Argumentationstechnik übliche Stresstests für moralische Prinzipien. Sich über den Test zu beschweren, gilt als guter Indikator, dass die Prinzipien versagt haben. Die Verzichterklärung lasse ich nicht als Ausrede gelten. Du hattest deutlich zu verstehen gegeben, dass es eine solche gar nicht braucht um jemanden von der Behandlung auszuschließen, würde es in einer idealen Welt nach Deiner Moralvorstellung gehen. Und es ist immer noch Deine Moral, die hier gerade auf dem Prüfstand steht und nicht irgendwelche juristischen Hilfskonstrukte, auf Du die notgedrungen zurückgreifen müsstest, um überhaupt eine realistische Chance zu haben, Deine Moral zumindest in Teilen rechtskonform zu implementieren. Also rede Dich nun auch nicht mit diesen heraus.
Ich rede mich nicht raus. Das war der erste Beitrag zu der Thematik, bevor du in die Diskussion kamst:
Einladung zur Impfung für jeden, 4 Wochen später, dazu eine Einverständniserklärung, dass man bei einem Verzicht auf die Impfung im Falle einer harten Triage auf die Behandlung verzichtet (man darf schließlich auf eine Behandlung verzichten). Das ist eine weitaus kleinere Einschränkung der Freiheit als eine Ausgangssperre (die eigentlich Verfassungswidrig ist, weil dich auf der Straße keiner Fragen darf, ob du geimpft bist), es betrifft weitaus weniger Menschen und hätte mit Sicherheit eine größere Wirkung auf die Impfquote.
Wenn du nur die Hälfte liest, solltest du nicht mich dafür verantwortlich machen.
Ja, in meiner Moralvorstellung wird das Selbstverschulden sehr hoch gewichtet. Steht es über allem anderen? Selbstverständlich nicht. Das wurde von mir auch nie so behauptet. Ich habe immer klare Grenzen dieser Selbstverschuldung formuliert.
Doch, das hast Du ausgeschlossen:
Mag sein, dass Du das nicht so gemeint hast, aber genau so hast Du es geschrieben. Irritierend finde ich auch, dass ich Dich hier noch darauf hingewiesen habe, dass Eigenverantwortung im Strafrecht von zentraler Bedeutung ist, Du nun aber glaubst, mich darauf hinweisen zu müssen, dass Eigenverantwortung im Strafrecht von zentraler Bedeutung ist:
Zu der Aussage stehe ich weiterhin. Dein Beispiel mit der nicht-konsensuellen sexuellen Handlung war schlicht unpassend, weil man auch bei legitimen, naturgetriebenen Tätigkeiten moralisch und rechtlich fragwürdige Taten begehen kann. Das Beispiel wäre hier wieder die natürliche Nahrungszunahme, aber der moralisch frageürdige Kannibalismus.
Tatsächlich forderst Du, wie schon ausgeführt, dass Ungeimpfte unter besagten Umständen die Konsequenzen Deiner Selektionsstrategie tragen sollen. Das ist nun ebenso "künstlich geschaffene" Konsequenz wie die strafrechtlichen Konsequenzen im Strafrecht. Dort irrst Du übrigens auch. Fahrlässige Tötung und Mord werden nicht nach dem Kriterium der Eigenverantwortlichkeit unterschieden. Für beide Straftaten ist Eigenverantwortlichkeit gleichermaßen notwendige Voraussetzung zur Feststellung von Schuld und damit der Strafbarkeit. Eigenverantwortlichkeit kann zwar durch massiven Zwang oder Unzurechnungsfähigkeit erheblich herabgesetzt oder sogar gänzlich ausgeschlossen sein. Da Homosexuelle im Iran aber weder unzurechnungsfähig sind noch massiv zum Sex gezwungen werden, ist diese Möglichkeit für den Vergleich schlicht irrelevant.
Ja, das Problem hier ist, dass wir rechtliche und moralische Komponenten vermischen und darum offensichtlich an verschiedenen Stellen aneinander vorbeireden. Die Moral und die daraus abgeleiteten rechtlichen Grundlagen sind nicht identisch. So halte ich bspw. Gefängnisstrafen für unmoralisch. Denn jemanden einzusperren widerspricht meiner moralischen Vorstellung eines freien Lebens. Gleichzeitig akzeptiere ich, dass es die Ahndung von Straftaten ist, die am ehesten mit meiner Moralvorstellung zu vereinbaren ist.
Um es endlich wieder klar zu trennen, kann ich meine Vorstellungen gerne nochmal nach strafrechtlich und moralisch trennen:
Moral: Wer sich selbstverschuldet in eine Situation begibt, dass er krank werden oder sterben kann, ohne jegliche reale Begründung dafür, ist im Zweifelsfall weniger schützenswert als eine Person, die sich unfreiwillig in diese Situation begeben hat. Extrembeispiel wäre hier ein Suizidwilliger und ein Gleisarbeiter bei einem Zug. Wenn ich hier einen retten müsste, wäre es ohne jede Frage immer der Gleisarbeiter, weil er nicht in dieser Situation sein
will.
Wo diese Grenze zwischen Freiwilligkeit und Selbstverschuldung liegt, kann man selbstverständlich nun hinterfragen und ich stehe auch dazu, dass diese Grenze nicht ganz klar definiert werden kann. Meiner Ansicht nach ist eine homosexuelle Handlung so bspw. eine natürliche Handlung, ein Impfverzicht ohne medizinische oder psychische Gründe aber nicht. Entsprechend ist Ersteres vertretbar, Zweiteres nicht.
Dass man hier durchaus auch andere Grenzen ziehen kann, will ich nicht abstreiten. Nur begeben wir uns dann in Detailfiskussionen, die nicht mehr viel mit der eigentlichen Thematik zu tun haben. In anderen Themenfeldern könnte man dann auch über die Moral der Ernährung diskutieren. Warum essen wir Tiere, aber keine Menschen? Warum Pflanzen, aber keine Tiere? Warum töten wir Ameisen, aber keine Menschen? Warum schützen wir manche Tiere, aber Insekten sind uns egal? Irgendwo ziehen wir die Grenze, was wir für moralisch vertretbar halten und was nicht.
Recht: ein Ungeimpfter sollte bei einem Impfverzicht in Bezug auf die medizinische Behandlung eine Verzichterklärung unterzeichnen müssen. Diese Verzichterklärung ginge mit allen Regeln und Handhabungen einer bereits existierenden Verzichterklärung einher. Würde ich, rein von meiner Moral, weiter gehen? Möglich. Schwierig zu sagen, weil ich, wie bereits . Rechtlich ist die Situation aber klar.