Friedliche Aktivisten oder aktive Terrorunterstützer? Israel behauptet, dass einige Teilnehmer und Organisatoren des attackierten Gaza-Konvois Verbindungen zu al-Qaida und anderen Terrororganisationen hätten - liefert aber keine Beweise. Eine Spurensuche.
Berlin - Seit Israels Marine den Schiffskonvoi mit Hilfsgütern für den Gaza-Streifen attackierte, hat täglich mindestens ein Vertreter der israelischen Regierung geltend gemacht, dass einzelne Teilnehmer oder Organisatoren der Friedens-Flottille Beziehungen zu Terrorgruppen unterhalten. Die Vorwürfe sind teilweise sehr schwerwiegend und werden von den Inkriminierten entschieden bestritten.
Am Anfang lag der Fokus der israelischen Beschuldigungen auf der türkischen Hilfsorganisation IHH, die drei der sechs Schiffe des Konvois gekauft hatte. Die meisten der insgesamt neun bei dem Angriff der Marine auf die Schiffe getöteten Personen waren offenbar IHH-Mitglieder. Mittlerweile wurde die Liste ergänzt um Vorwürfe gegen fünf Einzelpersonen, die anscheinend keine IHH-Verbindung haben, aber al-Qaida, der Hamas und dem Islamischen Dschihad zuarbeiten sollen.
Jeder Versuch, diese Anschuldigungen zu überprüfen, stößt an Grenzen - vor allem, weil einige der Quellen, auf die sich Israels Regierung beruft, allem Anschein nach Geheimdienstinformationen sind. Außerdem beziehen sich etliche Quellen aufeinander - und so werden die Ursprünge nicht sichtbar.
Beispielhaft dafür ist eine Liste mit Anschuldigungen gegen sechs namentlich identifizierte Passagiere des Gaza-Konvois, die am Montag vom Pressesprecher der israelischen Armee versandt wurde.
* Die US-Iranerin Fatimah Mahmadi soll demnach versucht haben, "verbotene Elektroteile" nach Gaza zu schmuggeln.
* Ken O'Keefe, ein US-Amerikaner mit irischer und palästinensischer Staatsbürgerschaft und international bekannt, weil er zu Beginn des Irak-Krieges 2003 als menschlicher Schutzschild nach Bagdad reiste, ist laut Israels Armee ein operatives Mitglied der Hamas; er habe den Gaza-Streifen zu erreichen versucht, weil er angeblich eine Elite-Einheit für die Hamas aufbauen und trainieren wollte. Der "Irish Times" sagt er: "Wer zur Hölle hat sich das denn ausgedacht?" Er erwäge eine Klage, weil die Anschuldigung ihn gefährden könne.
* Hassan Iynasi, aus der Türkei, soll Geld an die Terrorgruppe Islamischer Dschihad überbracht haben.
* Der Türke Hussein Urosh sei auf dem Weg nach Gaza gewesen, "um dabei zu helfen, Qaida-Kader über die Türkei in den Streifen zu schmuggeln".
* Der Franzose Ahmad Umimon sei ein "operatives Mitglied der Hamas".
In der Liste fehlt indes jeglicher Hinweis auf die Quellen dieser angeblichen Tatsachen. Es heißt zu Beginn der Mitteilung lediglich, dass diese Passagiere des attackierten Schiffes "Mavi Marmara" dafür "bekannt seien, in Terroraktivitäten eingebunden" zu sein. Belege oder gar Beweise liefert die israelische Armee nicht.
Öffentliche Quellen enthalten keine Informationen, die diese schweren Anschuldigungen stützen würden. Dass alle fünf zudem mittlerweile freigelassen wurden, mag - so wird unter israelischen Diplomaten gemunkelt - dem Druck aus den USA geschuldet sein. Es widerspricht jedoch zugleich normalen israelischen Gepflogenheiten, solche angeblich hochrangigen Terrorunterstützer laufen zu lassen - was die Qualität der Informationen implizit in Frage stellt.
Vorwürfe gegen IHH basieren vor allem auf drei Quellen
Ähnlich kompliziert ist die Gemengelage mit Blick auf die türkische Hilfsorganisation IHH. Sicher ist, dass die Anfang der neunziger Jahre gegründete NGO weltweit aktiv ist, zahlreiche Hilfsprojekte durchführt, mit der Hamas sympathisiert, deutlich antiisraelisch und islamistisch ausgerichtet ist.
Bereits am 31. Mai sagte der stellvertretende israelische Verteidigungsminister Danny Ayalon allerdings, die Organisatoren des Konvois hätten Verbindungen zum internationalen Dschihadismus und zu al-Qaida. Israelische Botschaften versandten Hintergrundpapiere an Journalisten, in denen "weitere Informationen über die Verbindungen der IHH zum Terrorismus" enthalten seien. Auch ein Sprecher des israelischen Außenministeriums stellte eine Terrorverbindung her. Der israelische Botschafter in Dänemark sagte laut dem britischen "Independent", es gebe "Gerüchte" über eine Verbindung der IHH zu al-Qaida.
In Bezug auf die Anschuldigungen gegen die IHH ist die Quellenlage zwar etwas besser. Allerdings bleiben auch hier Fragezeichen. Praktisch alle Anschuldigungen, dass die IHH Verbindungen zur Terroristen hegt, gehen dabei auf einige wenige Quellen zurück:
* Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gab die CIA eine Untersuchung über Terrorverbindungen islamischer Wohlfahrtsorganisationen frei; darin taucht auch die IHH auf. Allerdings sind die Vorwürfe ziemlich unkonkret: In einem (angeblichen) Auszug aus dem CIA-Papier, den die israelische Organisation Intelligence and Terrorism Information Center (ITIC) am 30. Mai versandte, steht unter der Rubrik "Extremistische Verbindungen" lediglich: "Iran, algerische Gruppen". Der Direktor des Büros in Sarajevo habe Verbindungen zu "iranischen Operateuren". Quellen werden nicht genannt. Besonders verwirrend ist jedoch, dass der volle Name der IHH hier mit International Humanitaire Hilfsorganization wiedergegeben wird - was definitiv nicht die Selbstbezeichnung der Organisation ist und wegen der offensichtlich fehlerhaften Schreibweise weitere Fragen nach der Zuverlässigkeit des Berichts aufwirft. (Die Selbstbezeichnung ist Insani Hak ve Hürriyetler Vakfi) Zudem soll die IHH ihr Hauptquartier in Deutschland haben, was nicht stimmt. Unerklärlich ist zudem, wieso das ITIC, das laut der britischen "Times" enge Beziehungen zu Israels Armee hat, in einer Neuauflage des IHH-Dossiers die CIA plötzlich nicht mehr zitiert.
* Zweite Hauptquelle ist eine Studie des Danish Institute for International Studies aus dem Jahr 2006, die von türkischen Ermittlungen gegen die IHH berichtete, denen zufolge IHH-Mitglieder sich auf den bewaffneten Kampf in Afghanistan, Bosnien und Tschetschenien vorbereitet hätten und bei einer Razzia in Istanbul Feuerwaffen und Sprengstoff entdeckt wurden. Auch von Telefonaten mit mutmaßlichen Qaida-Kontakten und Waffenlieferungen an Militante war demnach die Rede. Außerdem enthielt der Report eine Zusammenfassung der Aussagen des mittlerweile pensionierten französischen Terrorermittlers Jean-Louis Brugiere, der bei einem Prozess in den USA im April 2001 ausgesagt hatte, dass es zwischen dem später verurteilten Angeklagten, der den Flughafen von Los Angeles im Auftrag al-Qaidas angreifen wollte, und der IHH eine Verbindung gegeben habe.
* Brugieres Aussagen selbst sind schließlich die dritte Hauptquelle. Zum einen gibt es das Protokoll seiner damaligen Gerichtsaussage, in der er unter anderem erklärte, IHH-Mitarbeiter seien in Waffenschmuggel und Dokumentenfälschung zugunsten Militanter verwickelt. Zum anderen interviewte die Nachrichtenagentur AP den Franzosen in der vergangenen Woche eigens zur IHH. Darin sagte er, er könne zwar nicht sagen, ob die IHH heute noch Terrorverbindungen habe, in den späten Neunzigern aber "half sie al-Qaida, als Osama Bin Laden US-Ziele angreifen wollte". Zu dieser Zeit sei die IHH von Dschihadisten infiltriert gewesen - das Ausmaß sei zu groß gewesen, als dass es ohne Wissen der Organisation geschehen sein könnte.
Die drei Dokumente sind veritable Indizien dafür, dass im Umfeld der IHH zumindest in den Neunzigern einzelne Mitglieder Terrorverbindungen unterhielten; es bleibt aber unklar, zu welchem Grad diese Unterstellung auf die Organisation insgesamt und auf die Gegenwart übertragbar ist.
IHH weist sämtliche Anschuldigungen zurück
Die IHH weist sämtliche Anschuldigungen vehement zurück. Anders als von Brugiere berichtet, seien bei einer Razzia in der Türkei zum Beispiel niemals Waffen gefunden worden. Die Organisation sei grundsätzlich friedlich und verurteile Terrorismus. Die IHH-Mitarbeiter, die von Brugiere als Terrorhelfer identifiziert wurden, kenne man nicht.
In Israel ist die IHH wegen Verbindungen zur Hamas seit 2008 verboten. Vom US-Außenministerium und europäischen Staaten wird sie nicht als terroristisch gelistet; ein Sprecher des US-Außenministeriums sagte AP sogar, dass die USA eine Verbindung der IHH zu al-Qaida "nicht bestätigen" können, auch wenn man wegen der Verbindungen zur Hamas "besorgt" sei.
Das Bild bleibt somit verwirrend. Klar ist, dass es eine Fülle an Verdachtsmomenten aus den neunziger Jahren gegen IHH-Mitarbeiter gibt, aber neben der Hamas-Connection keine Vorwürfe aus den letzten Jahren.
Evan Kohlmann, US-Terroranalyst und Autor der dänischen Studie aus dem Jahr 2006, sagte SPIEGEL ONLINE zu den kursierenden Vorwürfen: "Das Problem ist: Auf der einen Seite stehen die Israelis, die darauf beharren, dass jeder an Bord ein Terrorist ist. Auf der anderen Seite steht die Türkei, die darauf beharrt, dass jeder an Bord ein unschuldiger, friedlicher Menschenfreund ist."
Man müsse nicht viel von der Sache verstehen, so Kohlmann, um zu dem Schluss zu kommen, dass "keine Seite besonders aufrichtig ist".