Streit um X: Elon Musk vs. Brasilien
Thomas Fischermann
Elon Musk vs. Brasilien
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Und so wie es im Moment aussieht, haben beide immer mal wieder recht.
Dass Musks Unternehmen X in Brasilien Gesetze bricht, ist offensichtlich: Musk setzt sich seit Monaten gegen gerichtliche Anweisungen zur Wehr, die de Moraes ausgestellt hat. Er hat entschieden, dass X serienweise Benutzerkonten blockieren soll, denn auf der Plattform werden laut seiner Einschätzung Fake-News, Hetzreden und sonstige Gefährdungen der Demokratie verbreitet.
Seit dem Frühjahr hat das X-Management solche Gesuche mal befolgt und mal nicht. Die Listen hat das Unternehmen immer wieder öffentlich gemacht – obwohl das teilweise auch gegen brasilianisches Recht verstieß, da diese Anordnungen mit Geheimhaltungsauflagen versehen waren. X publizierte dicht beschriebene Seiten voller Kontonamen, gestempelt und gezeichnet von de Moraes.
X monierte, dass sogar Parlamentsabgeordnete und Fernsehpastoren zensiert werden sollten, und dass die Justiz weder Angaben über den genauen Anlass für die Sperrungen mache noch Möglichkeiten für einen Rekurs gebe. Der Richter erließ Geldstrafen und Haftandrohungen gegen X-Repräsentanten in Brasilien. X wiederum spielte ein wochenlanges Versteckspiel mit dem Richter, nannte über seine Anwälte offenbar wechselnde Repräsentanten – so stellt das oberste Gericht es dar – rückte aber nicht mal deren Telefonnummern raus. Mitte August machte X sein brasilianisches Büro, das zuletzt noch etwa 40 Mitarbeiter gehabt haben soll, dicht.
Ein Wust aus Polemiken, Übertreibungen und Beschimpfungen
Und es stimmt schon, dass auch das nicht rechtens war. Das Gesetz in Brasilien schreibt vor, dass Internetdienstleistungen im Stile von X ein Büro im Land unterhalten müssen, an das sich die Justiz im Bedarfsfall wenden kann. Die über Nacht beschlossene Schließung sollte wohl dem Schutz von Musks Angestellten vor Strafverfolgung dienen.
Musk hatte offenbar damit gerechnet, dass Brasilien den Zugang zur Plattform sperren könnte: Dann würden die Brasilianer eben mit VPN-Diensten auf die X-Angebote zugreifen, über Computerserver in den USA, hatte er gesagt. Der Richter de Moraes hat allerdings am Wochenende verfügt, dass jeder, der so etwas in Brasilien versucht, eine Strafzahlung von umgerechnet 8.000 Euro zu erwarten habe. Der X-Konkurrenzdienst Bluesky meldet jedenfalls seit dem Wochenende Rekordzahlen neuer Benutzer aus Brasilien.
Leider muss man, um einen klaren Blick auf diese Auseinandersetzung zu bekommen, erst mal durch einen Wust von Polemiken, Wutausbrüchen und Übertreibungen hindurch. Der Techunternehmer pöbelt in diesen Tagen wie ein frustrierter Junge gegen de Moraes, schimpft den obersten Richter mal einen "Verbrecher", mal einen "Diktator" und wünscht ihn hinter Gitter ("bloß noch eine Frage der Zeit"). Fast täglich amüsiert er sich in Postings darüber, wie ähnlich de Moraes doch dem fiesen Zauberer Voldemort sehe, dem Bösewicht aus den Harry-Potter-Kinderbüchern.
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Die staatliche Überwachung des Internets ist kaum geregelt
Bei so viel Polarisierung und so vielen Sprüchen kann man das eigentliche Problem in der Sache Brasilien gegen X aber fast übersehen: In dem Land ist schlecht bis gar nicht geregelt, wie eine rechtsstaatliche Überwachung des Internets aussehen soll. Das Parlament, zwischen rechts und links zerstritten, scheitert daran, entsprechende Gesetze zu erlassen, Institutionen zu gründen oder klare Selbstaufsichtspflichten für Unternehmen zu bestimmen.
In diesen regulatorischen Wilden Westen platzte vor einigen Jahren dann eine der größten Fake-News-Kampagnen aller Zeiten herein. Der Ex-Präsident Bolsonaro und seine Söhne beauftragten Hundertschaften von Propagandaexperten, die Wählerschaft über soziale Medien mit Falschinformationen zu manipulieren. Covid-19 und die Hunderttausenden Toten im Land? Kommunistische Lügenmärchen! Die verheerenden Flächenbrände am Amazonas? Wurden in Wahrheit von Greenpeace und Co. gelegt!
Bolsonaros Onlineexperten bezichtigten politische Gegner aller erdenklichen erfundenen Straftaten. Die Abwahl Bolsonaros im Jahr 2022 sei gefälscht gewesen. Am 8. Januar 2023 gipfelten die Lügenkampagnen darin, dass Hunderte Bolsonaro-Anhänger in der Hauptstadt Regierungsgebäude verwüsteten.
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Zumal sich im Laufe der Zeit auch die Klagen über Überreaktionen häuften und Belege für unsaubere Absprachen zwischen Richtern und Staatsanwaltschaften herauskamen. Die Gerichtsanweisungen von de Moraes, die Musks Firma X seit Monaten veröffentlicht – derzeit unter dem Konto @AlexandreFiles –, legen nahe, dass hier durchaus ein übereifriger Richter zugange ist.
Musk liegt also nicht falsch, bloß dass er sich dabei arg kolonialistisch aufführt. Der selbst ernannte radikale Verfechter freier Rede versucht, Brasilien sein eigenes, sehr US-amerikanisch geprägtes Rechtsverständnis überzustülpen. In den USA ist noch vieles als freie Rede erlaubt, das in anderen Demokratien, wegen anderer historischer Erfahrungen und politischer Realitäten, als Hassrede, Demokratiegefährdung oder Angriff auf die Würde staatlicher Institutionen verboten ist.
Musk interessieren solche Unterschiede wenig, und man kann in seinen Äußerungen auf X Tag für Tag nachvollziehen, wie sehr er sich vom brasilianischen System auf den Arm genommen fühlt. Tatsächlich hat ein Richter wie de Moraes dort eine gewaltige Macht, er kann viel bestimmen und diese Bestimmungen selbst zur Geheimsache erklären, scheint selbst bisweilen über dem Gesetz zu stehen.
Einen wie de Moraes kann man nur durch ein Impeachment loswerden, ein Absetzen durch das Parlament. Das ist ein langwieriger Prozess mit vielen Hürden. Einige Abgeordnete der rechten Parteien wollen ihn trotzdem beschreiten.
Darauf kann Elon Musk jetzt entweder (sehr) geduldig hoffen, oder er muss sich doch noch damit abfinden, dass in Brasilien andere mehr Macht haben als er.
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Brasiliens Justiz sperrt X. Elon Musk wirft dem höchsten Richter Rechtsbruch vor. Es ist ein Machtkampf mit ungewissem Ausgang, bei dem beide ein bisschen recht haben.
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