Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht genau. Offizielle Statistiken zu betroffenen der cancel culture gibt es keine.
Ad hoc würde mir jetzt Frau Carano, der Bodega Bro, Jonathan Friedland, Jonny Depp, JK Rowling, Richard Dawkins usw. einfallen und wenn ich ein paar Stunden suchen würde, würde ich sicherlich einige Dutzend prominentere Fälle finden und wenn man weniger prominente Fälle nimmt, sind es sicherlich hunderte Personen in den letzten Jahren.
...also, eine saubere Definition von "canceln" würde mich mal interessieren. Ich kenne mich zwar mäßig gut mit Meinungsfreiheit aus, aber nicht gut mit neurechtem Geheule, deshalb traue ich mir nicht zu eine gute Definition zu schreiben. Wo verläuft denn genau die Linie zwischen unproblematischer Gegenrede und Cancel-Culture?
Schauen wir uns mal deine Beispiele an:
Frau Carano: hatte die Verschwörungstheorie Trumps, das die Wahl gestohlen wurde, verbreitet. Als sie dafür einen backlash bekam, kritisiert wurde, hat sie sich aufgrund der Kritik mit den Juden im untern Nationalsozialismus verglichen. Für diesen absolut unangemessen Vergleich wurde sie gefeuert, da dieser Geschäftsschädigend ist.
Bodega Bro: Er wurde gefeuer weil er interne Firmen Dokumente auf Tiktok gezeigt hatte.
Jonathan Friedland: wurde Gefeuert nachdem er in einen Arbeitsmeeting Rassistisch gewurden war.
Jonny Depp: Verlor eine Verleumdung gegen die Sun. Also ein Schauspieler der wegen Schlechter Presse kürzer treten musste
JK Rowling: Sie hat sich Transfeindlich geäußert wurde dafür Kritisiert. Worauf sich ihre Bücher so gut Verkauft haben wie schon lange nicht mehr
Richard Dawkins: Er wurde von einer Vortragsveranstaltung wieder ausgeladen, da er eine starke anti- Islamhaltung hat
Deinen Beispielen nach, besteht canceln darin, für seine politischen Äußerungen oder Handlungen negative Konsequenzen zu erfahren. Also ist "canceln" dann eigentlich nur, jemandem Vorwürfe zu machen und andere Reagieren auf diese? Das wäre ja ein sehr übersichtlicher Vorgang. Ob die Vorwürfe berechtigt sind, und ob sich genug Leute den Vorwürfen anschließen damit es Folgen hat, sind ja eine davon unabhängige Fragen. Falls ja, ist "canceln" definitiv nichts verwerfliches. Das Konzept eines Vorwurfs ist ja schon irgendwie wichtig. Würden wir einander nichts vorwerfen, wäre es sehr selten dass jemand auf einen Fehler aufmerksam wird, geschweige denn ihn einsieht.
Natürlich fallen unter die Definition auch Sachen, die ich schlecht finde. Aber um es als eigenes Phänomen zu diskutieren, müsste man es halt irgendwie eingrenzen. Das Wort "Arschloch" beweist ja auch nicht, dass die deutsche Sprache an sich bereits beleidigend ist.
Da ist dann gleich mein Problem mit der Diskussion: der Begriff ist so weit gefasst, dass er völlig nutzlos wird.
An sich ist es ja in einer freien Gesellschaft völlig normal, dass Menschen auf die eigenen Meinungsäußerungen reagieren, ggf. auch negativ. Das gab es schon immer und wird es auch immer geben. Es ist schwer vorstellbar, wie sich das verhindern ließe ohne die Meinungsfreiheit massiv einzuschränken und das Ergebnis hätte definitiv wenig mit einer freien Gesellschaft zu tun.
Nicht nur kann man cancel culture nicht verhindern, ohne die Meinungsfreiheit enorm einzuschränken; dass cancel culture als größeres Problem wahrgenommen wird, liegt ziemlich unmittelbar an einer größeren Meinungsvielfalt. Heutzutage kann man halt per social Media leichter eine größere Öffentlichkeit erreichen als früher. Dadurch kann die Kritik von marginalisierten Gruppen an manchen Äußerungen oder Handlungen sich erstmals verbreiten und Auswirkungen entfalten.
Zum zweite Teil des Begriffs. Vielleicht übersetze ich den auch zu wörtlich, aber ich verstehe es so, dass vermeintlich eine gesellschaftliche
Kultur des "Canceln" existiere, sowie es z.B. Unternehmenskulturen gibt (alle Duzen sich, alle Siezen sich, man ißt gemeinsam Mittag, whatever). Unter diesem Gesichtspunkt würde ich der Existenz einer "Cancel Culture" widersprechen. Eine "systematische Bestrebung" kann ich nicht erkennen, eine entsprechende Behauptung wird in erster Linie von Populisten aufgestellt, wenn ihnen - was bei Populisten in der Natur der Sache liegt, sonst wären sie keine Populisten - die Argumente ausgehen. Dann kommt gerne dieses "man darf gar nicht mehr sagen, dass ..." als einzige Replik darauf, dass es massiven Widerstand gegen ihre in der Regel unbelegbaren populistischen Äußerungen gibt.
Was nicht heißen soll, dass man das Thema nicht kritisch im Blick halten sollte. Aber da muss man eben auch von Fall zu Fall genau hinschauen. Wenn z.B. eine Kabarettistin nicht mehr besetzt wird, weil sie nicht groß genug für eine eigene Show ist, andere Künstler sich aber weigern, mit ihr gemeinsam aufzutreten und der Veranstalter dann aus rein marktwirtschaftlichen Gründen lieber auf sie als auf eine Menge anderer Zuschauermagneten verzichtet, halte ich das für ganz normales Marktgeschehen. Wird sie hingegen nicht mehr gebucht, weil Veranstalter Angst vor einem aufgebrachtem Mob haben müssen, der mit Gewalt und Zerstörung droht, dann ist das eine Entwicklung, gegen die man angehen sollte.
Oder allgemeiner: Man muss schon sehr genau hinschauen, ob überhaupt "gecancelt" wird und wenn ja, wer da wen aus welchen Gründen cancelt. Meiner Einschätzung nach ist es in den meisten Fällen wir oben schon erwähnt viel heiße Luft, die da fabriziert wird, wenn Leuten die Argumente ausgehen.