Kapitel 3) Lukar
Schon von Weitem konnte der Jäger sein Opfer die Straße herab schlendern sehen. Der verträumte Blick wies auf einen Besucher oder gar Ausländer hin. Leichte Beute. Nun war es nur nötig, das richtige Timing anzulegen. Nicht zu schnell aus der Deckung gehen, immer Ruhe bewahren und nie den Blickkontakt scheuen. Etwas Mut gehörte natürlich auch dazu, besonders um diese Uhrzeit. Aber jemand musste es ja tun. 5 Schritte noch…eine Ecke…und…
„Hey sie, was halten sie von Delfinen?“, frage der junge Mann Lukar und hielt ihm ein großes Schild vor die Nase.
„Ich…äh…“
„Wussten sie, dass jedes Jahr Zehntausende von ihnen einen grausamen und sinnlosen Tod sterben müssen? Und die Bedingungen in Zoos sind auch schrecklich. Die Fischerei heute zerstört nicht nur ihre Nahrung, sondern rottet sie in vielen Regionen Asiens völlig aus. Anlässlich des Besuches des japanischen Kaisers nächste Woche, wollen wir eine Liste mit über 100.000 Unterschriften präsentieren. Um ein Zeichen zu setzen, gegen Dekadenz, Gottvergessenheit und Massenmord. Unterschreiben sie hier und zeigen sie, dass sie ein Herz haben und die Welt noch nicht von grauen Technokraten beherrscht wird.“
„Äh…natürlich.“, stammelte Lukar und griff nach dem Stift.
„Ich habe sofort gesehen, dass sie wie ein kritischer Mitbürger aussehen. Wollen sie vielleicht auch gegen eine kleine Spende unser monatlich erscheinendes Heft „Tier und wir“. 50% der Einnahmen fließen direkt in das Pachten von Grasflächen, um Hunderten zuvor imperialistisch versklavten Legehennen ein mensc…tierwürdiges Dasein zu bieten.“
„Wie viel Geld würde das kosten?“
„So gut wie nichts“, winkte der Aktivist lächelnd ab und kramte nach einem anderen Zettel. „Für die Dauer von 5 Jahren den lachhaften Preis von 700€ und wenn sie sofort zahlen, bekommen sie noch einen überaus niedlichen Stofftiger dazu. Frauen stehen auf Tierschützer.“ Den letzten Satz unterlegte er in einem Gesicht, welche er wohl für verschmitzt hielt, aber eigentlich nur ziemlich doof aussah.
„Solange werde ich aber nicht mehr hier sein, ich wohne nur wenige Monate in Wien.“
„Dann beweisen sie, was sie für ein gutes Herz haben und spenden sie den Rest für wohltätige Zwecke!“
Mit viel Mühe versuchte Lukar eine möglichst höfliche Ablehnung zu basteln. Normalerweise fiel ihm diese Fremdsprache recht leicht, aber der Mann machte ihm irgendwie nervös. Und wenn er nicht bald aufhörte, dieses Blatt vor seinen Augen herum zu wedeln…
„Ich denke“, setzte er an und warf einen flüchtigen Blick zur Seite, da ihm die passende Vokabel entfallen war. Wenige Sekunden später überquerte er, unter aufdringlichem Hupen, die Mariahilfer Straße. Der Aktivist schrie ihm etwas nach, aber der Russe kümmerte sich nicht darum. Genau so wenig interessierte er sich für seine pochende Lunge und rannte weiter. Viele Menschen studieren, weil sie mehr Geld verdienen wollten oder es einfach mussten. Lukar nicht. Er glaubte stattdessen daran, dass es Wahrheiten gab. Wissenschaftliche Wahrheiten, die jeder Überprüfung stand hielten. Dass waren die einzigen wirklichen Fakten, auf die es im Leben ankam. Wenn man in einem Dorf aufwuchs, wo es eine Hellseherin gab und mehrere Dutzend Bräuche, um Naturgeister und Kobolde fröhlich zu stimmen… Dann konnte man sich nur eingliedern – oder alles radikal ablehnen.
Ein Teil seiner Verwandtschaft weigerte sich seit ein paar Jahren sogar mit ihm zu reden. Dabei hatte er nur verkündet, dass er nach seinem Tod Besseres zu tun gedenke, als Kartoffelfelder vor Pilzen zu schützen. Alles war so viel klarer, wenn man nur endlich all die irrationalen Dinge vergaß. Wenn man wagte, selbst zu denken. Genau aus diesem Grund, musste der Tourist laufen. Um zu erfahren, dass er Unrecht hatte und seine Augen ihm einen Streich spielten.
„Nimm die Medaillons mit“, hatte seine Großmutter ihm immer wieder gesagt. „Nur so können die Kräfte dort über dich wachen.“ Nachdem die Greisin zwei Tage lang regungslos vor seinem Zimmer gesessen war, hatte er dann doch Mitleid bekommen. Jedenfalls genug, um die verfluchten Teile in den hintersten Winkel seines Koffers zu verbannen. Den Koffer, der gerade in seinem Apartment lag. Verschwitzt bog er um die nächste Ecke und landete in einer Sackgasse. Zwei Türen führten zu Wohnsiedlungen und ein leuchtendes Schild warb für ein griechisches Lokal. Zu spät!
Du könntest in das Lokal gehen, informierte ihn sein Unterbewusstsein verräterisch.
Wofür? Ich habe mich halt geirrt, konterte die Kognition.
Du hast doch Hunger. Oder vielleicht Angst?
Natürlich nicht. Gehen wir halt, auch wenn die Innenstadt völlig überteuert ist. Für den Preis eines Schnitzels, bekommt man zu Hause einen Sack Rüben.
Voller Achtung vor den eigenen Idealen, betrat er das Restaurant und schaute sich um. Mittelmeerbilder an den Wänden, ein Kellner mit einem schwarzen Schnurrbart und eine Jukebox, die „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens spielte. Alles so, wie es sein sollte. Nicht, dass irgendetwas davon griechisch war, aber Themenlokale hatten auch eher die Aufgabe, die Vorstellungen der Besucher zu befriedigen.
„Guten Abend, suchen sie sich einen Platz, ich komme gleich“, informierte der Kellner und eilte mit einem Tablett Richtung Küche. Aufmerksam durchquerte er also den Saal, gerade schnell genug, um alle Sitznischen sehen zu können. Ein dicklicher Mann, der sich mit seiner Zigarre in die letzte Ecke verkrochen hatte, zwei ältere Damen, ein Paar um die Mitte 40….aber nicht, was er suchte. Oder glaubte gesucht zu haben. Wie dumm war er eigentlich? All die Jahre hatte er, jede Form von Aberglauben abgelehnt und in ihm war dennoch ein Kern dieser alten und nutzlosen Riten rüber.
Dieser ganzen pseudomystischen Kinkerlitzchen, die volkswirtschaftlich sicher Dutzende Milliarden gekostet hatten. Immerhin konnte der Abend nur besser werden, versicherte der Verstand und außerdem waren noch Semesterferien. Die passende Gelegenheit für etwas ungehemmte Freude. Federnden Schrittes spazierte der Ungläubige also zur Herrentoilette, um sich die Hände zu waschen. Im gleichen Moment, ging die Tür daneben auf und er hätte sich beinahe in die Hose gemacht. Schwarze Stöckelschuhe, leuchtend rote Haare und der gleiche beige Rock, den sie bereits im Flugzeug getragen hatte.
„Was glotzen sie so?“, fragte das Gespenst neutral und wandte sich ab. Nur mit höchster Not, konnte er sich überwinden und legte die Hand auf ihre Schulter.
„Entschuldigung….sind sie vielleicht vorgestern in einem Flugzeug gesessen?“
„Sollte ich?“, antwortete die Frau unwirsch. Lukar erkannte erst jetzt ihr Alter, sie konnte noch keine 30 sein. Die Anspannung erhöhte seinen Akzent immens, aber er achtete nicht mal darauf.
„Ich bin ziemlich sicher. Ihr rotbraunes Haar. Ich bin gegen sie gestolpert. Aber es ist nichts passiert. Also mir schon, aber das ist nicht so wichtig. Sie…sind von dem Gateway gesprungen. Danach sind sie weggelaufen und wurden überfahren. Ich bin direkt neben dem Fenster gesessen, ich habe gesehen, wie der Wagen auf sie zugefahren ist und dann. Sind sie wirklich nicht geflogen?“
Langsam dämmerte es dem Touristen, wie dümmlich das alles klingen musste. Wie eine sehr billige Masche zum Anmachen. Scham erfüllte die leicht blässlichen Wangen, während ihre kalten grünen Augen ihn musterten. Schließlich verzog sich der Mund der Rothaarigen zu einem schmalen Lächeln und die Mimik wurde entkrampft.
„Ich kenne sie nichts und es geht sie auch nichts an – aber ja. Ich war auf dem einem Flugzeug und ich hatte dort gewisse….Komplikationen. Aber ich lebe, wie sie sehen können.“
„Wie?“, keuchte Lukar und biss sich auf die Zunge. Sekunden der Stille vergingen und während eine Schweißperle sanft seinen Rücken hinab lief, schaute sie in die Ferne.
„Der Fahrer versuchte auszuweichen, konnte aber nicht mit dem Gewicht umgehen, weshalb der gesamte Wagen umfiel.“ Misstrauisch lugte sie über ihre Schulter, aber der Kellner war nach wie vor damit beschäftigt, an der Bar mit zwei Freunden zu trinken. „Schon in der Schule war ich gut in Gymnastik, weshalb ich es in der letzten Sekunde geschafft habe, mich durch eine Rolle in Sicherheit zu bringen. Der Fahrer hatte scheinbar weniger Glück – sie haben sicher sein Blut gesehen“, murmelte die Rothaarige mit Bedauern und wurde plötzlich still. „Danach bin ich so schnell gerannt wie ich nur konnte, während alle anderen nur das Feuer verhindern wollten. Zwei Zäune später, war ich aus dem Gelände draußen…“
„Hmm“, summte Lukar, während sein Gehirn die Daten verarbeitete. Logische Erklärungen waren beliebt, aber das mystische Misstrauen wollte noch nicht aufgeben. „Warum erzählen sie mir das alles? Das ist doch…“
„Sie haben gefragt und…“ Schiefe Blicke überspielten ihre Augen, während sie ihn musterte. „Ich glaube du gefällst mir. Hast du heute Abend schon etwas vor? Du bist auch nicht von hier. Oder denkst du jetzt schlecht von mir?“
„Nein“, presste der Student hervor, etwas lauter als er wollte. „Nein, zu allem.“
„Sehr gut. Ich bin heute einsam. Seeehr einsam. Ich brauch jemanden zum Reden. Würden sie mir die Freude machen?“
Genüsslich erklärte ihm sein Unterbewusstsein, dass er nicht wegen seiner Neugier hier war. Er war von Anfang an in diese langen, fuchsroten Haare verschossen gewesen. Abgesehen davon, hatte ihm noch nie ein Mädchen in seinem Dorf eine solche Frage gestellt.
„Es wäre mir eine Freude“, antwortete er also mit einem vorsichtigen Grinsen.
„Wunderbar. Dann geh mal für kleine Jungs und ich bestelle uns einen Rotwein. Aber sag bitte keinem, wie ich hier her gekommen bin. Sonst gibt’s Haue.“ Mit diesen Worten versetzte sie ihm einen leichten, spielerischen Klaps auf den Hintern und zog sich in ihre Sitznische zurück. Eine Ecke, die dem Rest des Lokals keinen Einblick bot. Lukars Gesicht glühte und sein Gehirn bestand aus geschmolzenem Eisen. Besser als ein Gespenst, aber auf jeden Fall schockierender.
Als er zurück kam, standen bereits 2 Gläser auf dem Tisch und die Rothaarige beugte sich über die Speisekarte. Ohne aufzusehen sagte sie:“ Takara Wildoc.“
„Was?“
„Das ist mein Name. Ich hätte ihn vielleicht nennen sollen, bevor ich dich für den Abend einspanne. Und wie heißt du?“ Verträumt drehte sich ihr Kopf zur Seite.
„Lukar Notrow. Aus einem Kaff, dass nicht mal auf Karten steht.“
„Zum ersten Mal in der großen Stadt?“
„Kann man so sagen…es ist so beeindruckend.“
„Süß!“ Lukars Erfahrungen mit Frauen waren sehr begrenzt, aber vermutlich gab es schlimmere Dinge zu sagen.
„Wieso sind sie hier?“ frage er, um das Gespräch nicht ganz so einseitig zu machen. Langsam bekam er Durst, aber er würde den Wein nicht anfassen, bevor sie es auch tat.
„Meine Großmutter ist gestorben. Ich wollte zu ihrem Begräbnis, aber ich darf hier nicht legal einreisen…es ist kompliziert. Aber ich musste es wagen, sie war so gut zu mir als Kind und…“ Feine Ansätze von Feuchtigkeit erfüllten Takaras linkes Auge.
„Glaub nicht, dass ich so eine bin, die jeden Tag einen anderen Mann aufgabelt. Ich fühle mich nur im Moment wirklich….beschissen und sie wirken interessiert.“
„Mein Beileid. Sie müssen sich aber nicht entschuldigen. Das würde ich doch nie von ihnen denken“, verkündete der Russe, während sein Gewissen ob dieser Lüge laut aufschrie. Gemessen an seinen Erfahrungen, waren Enttäuschungen immer eingeplant.
„Hm, falls ich dich heut nicht völlig abschrecke –würdest du mich vielleicht morgen Abend mit mir zu dem Begräbnis gehen? Es ist sicher etwas plötzlich aber...“
„Es würde mich freuen, sie zu begleiten. Ich kenne hier auch niemanden.“
„Danke“, antwortete sie mit einem herzlichen Lächeln und beugte sich nach vorne.
„Dann muss ich dich nur noch um eine Sache bitten.“
„Um was?“
„Hör mit dem dämlichen „sie“ auf, dann fühl ich mich so alt.“
„Wie s…du willst. In meiner Heimat duzen sich Leute oft erst nach Jahren…“
„Und in meiner Heimat“, scherzte die Rothaarige amüsiert, „sollten wir jetzt schon beim dritten Glas sein. Auf einen wunderschönen Abend.“
„Auf meine Angst vor Geistern!“
Vorsichtig stieß Lukar mit dem Weinglas an, verlief sich noch einmal in ihren grünen Pupillen und nahm einen herzhaften Schluck. In diesem Moment war das Leben voller als sein Glas. Einen Augenblick später kollabierte der Junge und Schaum rann aus seinem Mund. Starre Augen fixierten für einen Moment den beigen Rock, bevor das Glas zu Bruch ging.
„Idiot“ murmelte Takara und hielt sich ihre Hände vors Gesicht. „Wieso musst du Wildfremden aus einem Flugzeug nachlaufen? In einer Stadt mit zwei Millionen Menschen, irgendwo in einem fremden Land? Du kannst mir glauben: Dass hat mir mehr weh getan als dir. Dieser Körper hat dich wirklich gemocht. Was für eine verdammte Verschwendung.“
Mit einem letzten Blick auf den regungslosen Russen, beugte sie sich hinab und leckte die ausgeschütteten Reste seines Glases vom Tisch auf. Der Kellner würde später der Polizei aussagen, er hätte ein abscheuliches Bild vorgefunden. Mann und Frau, beide in unnatürlichen Posen und mit leblosen Augen, die schäumenden Lippen bizarr zu einem ewigen Kuss verbunden. Doch als die Beamten kamen, war die junge Dame verschwunden und der Besitzer wurde wegen Lebensmittelvergiftung angezeigt.