Hier wurde auf den letzten Seiten von mehreren Personen mal wieder ohne hinreichende Evidenz behauptet, in Gaza herrsche eine Hungersnot.
Diese Behauptung ist nach jüngsten IPC-Analysen schlicht und ergreifend falsch. Es gibt in Gaza gemäß IPC keine Hungersnot, aber ein erhöhtes Risiko. Anderslautende Erklärungen sind Falschbehauptungen, die auf einer Fehlinterpretation des IPC-Klassifikationssystems beruhen. Aber der Reihe nach:
Das IPC (Integrated Food Security Phase Classification) unterscheidet 5 Phasen der Ernährungsunsicherheit:
Phase 1: none/minimal
Phase 2: stressed
Phase 3: crisis
Phase 4: emergency
Phase 5: castastrophe/famine
In diese Phasen können sowohl einzelne Haushalte als auch ganze Gebiete eingestuft werden. Bei Phase 5 beschreibt „catastrophe“ den Zustand einzelner Haushalte, während sich„famine“ (Hungersnot) auf ein bestimmtes Gebiet bezieht. „
Catastrophe“ und „famine“ (Hungersnot) sind also nicht dasselbe.
D.h. wenn der IPC-Bericht erwähnt, dass sich 17% der Bevölkerung in IPC-Phase 5 (catastrophe) befinden, bedeutet das nicht, dass 17% der Bevölkerung von einer Hungersnot betroffen sind, sondern erstmal nur, dass eine entsprechend hohe Anzahl von Haushalten unter so extremer Nahrungsmittelknappheit leidet, wie sie auch für eine Hungersnot typisch ist.
Von einer Hungersnot betroffen sein können aber nie die einzelnen Haushalte, sondern immer nur Gebiete. Ein Gebiet wird nur dann in IPC Phase 5 (Famine) eingestuft, wenn folgende drei Kriterien erfüllt sind, und zwar alle:
1. Mind. 20% der Haushalte in dem Gebiet müssen sich in IPC Phase 5 (catastrophe) befinden, d.h. diese Haushalte haben
extremen Nahrungsmangel.
2. Mind 30% der Kinder in dem Gebiet leiden unter Erscheinungen akuter Mangelernährung (
acute malnutrition)
3. Eine
Mortalität von mind. 2 Toten pro 10.000 Einwohnern täglich (Todesfälle durch Gewalteinwirkung sollen dabei nicht berücksichtigt werden)
Die Logik dahinter ist einleuchtend: Extremer Mangel an Nahrungsmitteln in vielen Haushalten führt kurz- bis mittelfristig zu akuten Mangelerscheinungen und schließlich zu zahlreichen Hungertoten im untersuchten Gebiet.
Genau das scheint aber in Gaza nicht zu passieren!
Obwohl weite Teile der Bevölkerung
seit Beginn des Krieges in IPC Phase 5 (catastrophe) eingestuft werden (17% in Nov/Dez; 30% in Feb/Mär; 15% in Mai/Jun), liegt die Mortalität in Gaza mit 0,55 Toten/10.000 Einwohnern nur geringfügig über jenem Mortalitätsbereich, welcher eher für die Phasen 1 und 2 charakteristisch ist (dabei sind die Todesfälle durch Gewalt noch nicht mal rausgerechnet). Beim zweiten Kriterium für eine Hungersnot (acute malnutrition) sieht die Sache nicht anders aus. Auch dieses Kriterium wird laut IPC-Analyse nicht erfüllt.
Folgerichtig hat der IPC-Bericht für
keines der drei untersuchten Gebiete in Gaza eine Hungersnot (IPC Phase 5 famine) ausgerufen. Er hat ein Famine-Risiko festgestellt und Gaza in IPC Phase 4 (emergency) eingestuft, ja. Was für einen urbanen Krieg aber nicht ungewöhnlich ist. Ein Famine-Risiko ist ernst zu nehmen, ist aber nicht mit einer Prognose zu verwechseln. Es handelt sich vielmehr um ein worst-case Szenario.
Stellt sich die Frage warum es trotz extremer Lebensmittelknappheit in vielen Haushalten kaum Hungertote gibt? Eigentlich hätte die Mortalitätsschwelle zur Hungersnot nach 8 Kriegsmonaten schon längst überschritten sein müssen. Warum ist das hier nicht passiert?
Dafür gibt es eigentlich nur eine plausible Erklärung: Die von extremen Nahrungsmangel betroffenen Haushalte bleiben nicht dauerhaft, sondern nur zeitlich begrenzt in Phase 5.
Die meisten Haushalte sind also nur vorübergehend von Phase 5 betroffen. Je nachdem wo und wie intensiv gerade gekämpft wird, wo die Hamas noch Macht und Einfluss hat Nahrungsmittel zu horten oder zumindest einzelne Transporte zu stehlen. Ansonsten scheint die Grundversorgung über
COGAT ausreichend um eine Hungersnot abzuwenden.
Ja, es gibt auch extremen Hunger in Gaza. Aber nicht in Form eines sich immer weiter ausdehnenden Krebsgeschwürs, sondern eher punktuell in Form lokal wechselnder Infektionsherde, die aufflammen und wieder abklingen, dabei i.d.R. aber nicht zum Tod führen.
Quellen:
www.ipcinfo.org