Der strategisch denkende Smotrich hat der Bewegung ungeahnte Erfolge beschert. In der Regierung von Benjamin Netanjahu hat er sich als „weiterer Minister im Verteidigungsministerium“ die Zuständigkeit für die Siedlungen im Westjordanland gesichert.
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Zugleich hat die Regierung seit Januar schon mehr als 23 Quadratkilometer palästinensischen Landes zu Staatsland erklärt, sodass es leichter für den Siedlungsbau genutzt werden kann. Das ist die größte derartige Landenteignung seit den Oslo-Abkommen vor 30 Jahren. Erleichtert werden diese Entscheidungen durch administrative Weichenstellungen, die Smotrich weitgehend geräuschlos im Hintergrund trifft. Er arbeitet auch daran, die Siedlungen stärker in die israelische Verwaltung einzugliedern. Kritiker der Besatzung sprechen schon davon, dass im Westjordanland nicht mehr nur de facto Apartheid herrsche, sondern inzwischen auch de iure.
Aus Sicht der Siedler läuft es gerade so gut, dass Orit Strock, die Ministerin für Siedlungen und Nationale Missionen von der Partei „Jüdische Stärke“, am Samstag gegenüber den Bewohnern eines der acht Außenposten von einer „Zeit der Wunder“ sprach. Sie fühle sich wie jemand an einer Ampel, wenn die Ampel plötzlich grün geworden sei, sagte sie. „Seht euch an, was wir in den letzten Monaten geschafft haben, und es steht noch mehr an, so Gott will.“ In Israel riefen ihre Bemerkungen von der „Zeit der Wunder“ angesichts des Kriegs und der Geiseln viel Empörung hervor. Aber die radikalen Siedler sehen ihre Aktivitäten, in den Worten Strocks, als eine „heilige Aufgabe“.
Daniella Weiss könnte von Kedumim aus in Ruhe zusehen, wie die Früchte ihrer Arbeit aufgehen. Aber sie sieht sich noch lange nicht am Ende ihres Wegs. Gegenwärtig wirbt sie für die jüdische Besiedlung des Gazastreifens.
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Dabei kann Weiss wertvolle Einblicke in die Weltsicht radikaler religiös-zionistischer Juden geben. Das ist auch insofern von Bedeutung, als diese Bewegung in Israel längst keine Randgruppe mehr darstellt. In der Parlamentswahl 2022 errangen ihre Parteien mehr als ein Zehntel der Knesset-Sitze. Seit Beginn der Bodenoffensive im Gazastreifen haben Bilder von Soldaten Aufmerksamkeit erregt, die dort jüdische Symbole anbringen und die Rückkehr in das Gebiet preisen. Schon viel länger aber macht sich im Westjordanland bemerkbar, dass die religiös-zionistische Ideologie selbst innerhalb der Armee auf dem Vormarsch ist. Die Schnittmenge zwischen Soldaten und Siedlern wird immer größer.
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Diese Mischung aus Pionierethos und militaristischem Denken ist bei den radikalen Siedlern weit verbreitet. Viele von ihnen scheuen daher auch die Konfrontation mit Palästinensern nicht – im Gegenteil: Manche sehnen sie regelrecht herbei. Sollte Smotrich Erfolg haben mit seinen Versuchen, die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in den Ruin zu treiben, würden das im Westjordanland vermutlich zu Chaos und Gewalt führen.
Kritiker halten das für sein eigentliches Ziel. Nachdem im Februar 2023 Hunderte Siedler eine palästinensische Stadt überfallen und Häuser und Autos in Brand gesteckt hatten, sagte der Oppositionsführer Benny Gantz, Smotrich wolle eine neue „Nakba“ – eine massenhafte gewaltsame Vertreibung der Palästinenser – verursachen. „Für ihn ist Eskalation eine wünschenswerte Sache.“
Smotrich selbst hat in einem Strategieplan für Israels Zukunft, den er 2017 veröffentlichte, die Zweistaatenlösung für unmöglich erklärt. Eine der beiden Seiten müsse aufgeben und auf ihre nationalen Ansprüche verzichten, schrieb er – „freiwillig oder gewaltsam“. Dem Plan zufolge soll den Palästinensern im Westjordanland die Möglichkeit gegeben werden, auszuwandern oder als „Individuen“ im Staat Israel zu leben – ohne volle Bürgerrechte. Sicherlich würden nicht alle eine dieser Optionen wählen, prophezeite er, sondern manche würden stattdessen gegen die Annexion des Westjordanlands kämpfen. Israels Sicherheitskräfte würden entsprechend reagieren: Sie würden „diejenigen töten, die getötet werden müssen“.
Der Gazastreifen stand lange Zeit nicht im Fokus der Siedlerbewegung, auch wenn sie die Räumung der 21 Siedlungen dort im Jahr 2005 nie verwunden hat. Mit dem Terrorangriff der Hamas und dem Gazakrieg hat sich das geändert. Viele radikale Siedler sehen auf einmal eine Gelegenheit. Anfang des Jahres wurde auf einer Konferenz für die Wiederbesiedlung des Gazastreifens geworben. Elf Minister der derzeitigen Regierung waren anwesend, mehr als ein Dutzend Parlamentsabgeordnete – und auch Daniella Weiss.
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Andere denken noch einen Schritt weiter. Aktivisten werben seit einigen Monaten dafür, auch im Süden Libanons wieder jüdische Siedlungen zu errichten. Andere fordern, dass Israel die ägyptische Sinai-Halbinsel wiederbesetzt – und langfristig auch Jordanien. Die israelische Historikerin Idith Zertal sagt über diese „Messianisten“: „Sie feiern den Krieg und wollen nicht, dass er aufhört. Er ist der Beginn von ‚Groß-Israel‘, nicht nur vom Mittelmeer bis zum Jordan, sondern darüber hinaus.“
Zertal, die zu den „Neuen Historikern“ gezählt wird, ist eine scharfzüngige Kritikerin der Siedlerbewegung, über die sie auch ein Buch geschrieben hat. Über Daniella Weiss sagt sie im Gespräch, sie sei „seit jeher die Königin der ganz Radikalen“ gewesen – der sogenannten Hügeljugend, also besonders gewaltbereiter Siedler. Es handele sich um „Kriminelle, die Palästinenser töten, Felder abbrennen und Olivenbäume zerstören“, sagt Zertal. Solche Angriffe werden immer wieder von Palästinensern dokumentiert, sie haben seit dem 7. Oktober massiv zugenommen.