Lionhearts Gedanken über den gestrigen Abend:
Es gibt Momente im Leben eines Wrestling-Fans, die man nie vergisst. Spektakuläre Angles, hochklassige Matches, grandiose Promos oder unerwartete Überraschungen - viele verschiedene Ereignisse können einen urplötzlich an das Produkt einer Promotion binden und für die einzigartige Kunstform des "Professional Wrestling" begeistern. Hulk Hogans erster Titelgewinn, Ricky Steamboat vs. Randy Savage bei WrestleMania III, der Bodyslam von Hogan gegen Andre The Giant, die Hochzeit von Randy Savage & Miss Elizabeth, die "Austin 3:16"-Rede beim King of the Ring 1996, der Heel Turn von Hulk Hogan beim Bash at the Beach 1996 oder der erste Stunner von Stone Cold gegen Mr. McMahon: In den 1980er und 1990er Jahren gab es viele dieser "magischen Momente", die eine neugierige Öffentlichtkeit zum Einschalten der großen Wrestling-TV-Shows animierte und teilweise sogar ganze Boom-Phasen in der von der WWE umbenannten "Sports Entertainment"-Industrie auslösten. Im günstigsten Fall wurden dabei auch neue Stars kreiert, denen die Fans danach jahrzentelang zu Füße lagen und deren Main Events den Promotern jede Menge Geld in die Kassen spülten. Nach dem Ende von WCW und ECW im Jahr 2001 änderte sich dies allerdings grundlegend. Die WWE gelangte erstmals in eine Monopolstellung und ruhte sich in der Folge gerade im Kreativen Bereich oftmals auf dieser aus. Magische Momente (wie der erste Titelgewinn von Edge bei New Year's Revolution 2006) waren nun rar gesät und enstanden eher durch Zufall als durch Einfallsreichtum der Kreativabteilung. Gerade in den letzten fünf Jahren hat man der WWE immer häufiger vorgeworfen, keine neuen Stars mehr kreieren zu können, da man zu sehr in festgefahrenen Strukturen, politischen Gräbenkämpfen hinter den Kulissen und seltsamen Booking-Strategien gefangen war. "Coporate WWE" als Sinnbild für "Coporate USA" schien die einzigartige Magie, die im Wrestling spontan aus der Interaktion zwischen Wrestlern und Publikum entstehen kann, fortan im Keim zu ersticken. Im Internet wurde spätestens nach dem Beginn der "PG"-Ära immer wieder kritisiert, wie vorhersehbar das WWE-Produkt teilweise daher kam und wie man potentielle neue Stars durch seltsame Booking-Entscheidungen immer wieder am finalen Durchbruch zu behindern schien. Immer, wenn jemand unerwartet over wurde, schien man ihn kurz danach wieder für seine zu schnelle Popularität bestrafen zu wollen. Dies manifestierte sich bei vielen jungen Newcomern dann stets in einer demütigenden Niederlagenserie (Sheamus, CM Punk, Jack Swagger oder zuletzt auch Wade Barrett seien hier genannt), so dass jedem Fan im Nachinein noch einmal eingehämmert wurde, wie dumm es eigentlich war, sich für den neuen Liebling überhaupt erst zu begeistern. Man hatte auf einen "Loser" gesetzt, der vom "Coporate System" noch gar nicht zum Bejubeln genehmigt worden war. So stagnierte das Produkt und die PPV-Buyrates wie die TV-Einschaltquoten der Promotion bewegten sich - von wenigen Ausnahmen abgesehen - langsam, aber stetig nach unten.
Und dann kam CM Punk ...
Vor einigen Wochen erklärte der "Straight Edge Superstar" bei RAW offen im Free TV seine Absicht, die Promotion nach dem Juli-PPV verlassen zu wollen. Darauf gewährte man ihm eine Woche später in finalen Segment der Show "totale Redefreiheit", um seinen letzten PPV Main Event gegen John Cena effektiver aufzubauen. Was konnte man hier noch verlieren? Alles schien auf den üblichen, schon oft gesehenen Ausgang hinauszulaufen: Der Heel, der sich auf dem Absprung befindet, macht in seinem letzten Match den cleanen Job für das strahlende Babyface. John Cena würde gewinnen und dann triumphierend zum Summer Slam reisen. Ein weiterer B-PPV wäre mit einem Cena-Sieg überbrückt worden. So schienen es fast alle eingefleischten WWE-Fans bereits vorhersagen zu können. Doch dann begann CM Punk plötzlich im Schneidersitz vor dem Titantron am Mikrofon zu zaubern, redete sich - ohne Skript - seinen lange angestauten Frust von der Seele ... und urplötzlich kam die Magie in die Shows der WWE zurück. Aus heutiger Sicht kann man nicht mit hunderprozentiger Sicherheit sagen, wieviel von der großen Storyline der letzten vier Wochen nun im Voraus geplant war. Einiges deutet darauf hin, dass auch die WWE von der massiven Breitenwirkung der ersten Punk-Promo im Internet überrascht wurde. Aber nach dem gestrigen PPV kann man zumindestens eines bilanzieren:
They picked up the ball and ran with it!
Die Steilvorlage einer unerwarteten Fanbegeisterung für einen scheidenden Topstar wurde diesmal tatsächlich genutzt und nicht wieder - aus Gehorsamkeit vor dem "Coporate System" im McMahon-Imperium - aus sturer Regeltreue gegen die Wand gefahren. Vieles hätte man bei dem Traumszenario "CM Punk und John Cena in Chicago" verkehrt machen können, gerade die Gimmick-Stipulations um die "Money in the Bank"-Koffer hätten möglichen Booking-Kapriolen eigentlich Tür und Tor öffnen müssen. Doch am Ende entschied man sich konsequent für das mutigste Ende: Man ließ den Heel den Titel tatsächlich gewinnen und dann durch das Hallenpublikum seinem Ex-Chef entkommen. Der in früheren "Monday Night War"-Tagen oft gehegte Alptraum des Vince McMahon, dass sein amtierender World Champion die Promotion mit dem WWE-Titel verlässt, wurde geschickt in einer Storyline ausgespielt, um einen aufstrebenden Wrestler endgültig zu einem großen Star zu machen: CM Punk. Denn auch seine größten Fans mussten bis vor einem Monat nüchtern bilanzieren, dass der ehemalige ROH-Champion in seinen fünf Jahren in der WWE nicht über den Status eines Midcarders hinaus gekommen war. Trotz dreier "World Title"-Gewinne, trotz mehrerer Stables, die er anführen durfte, trotz großartiger Wrestling-Skills, trotz herausragender Promo-Fähigkeiten - am Ende gab ihm die WWE nie wirklich den "Ball", um einen Home Run hinzulegen. Zu politisch unbequem hinter den Kulissen, zu wenig angepasst hinsichtlich der "Coporate Culture", zu klein für einen echten WWE Main Eventer - hinter vorgehaltener Hand gab es immer wieder Gerüchte, dass man ihn backstage nur allzu gerne "unten hielt", da er sich eben nicht anpassen wollte. Punk selbst fasste seine Gedanken zu diesen Diskussionen sowie seinen Vorgesetzten in der vergangenen Woche in einem Interview prägnant in zwei Sätzen zusammen:
"Professionally, what bums me out is not feeling like they ever really got behind me. My fan base, how I became popular, was really despite them. It was very organic. Instead of giving me the ball and letting me run with it, they would give me the ball to keep it warm for somebody else. I always just want to be the guy. - CM Punk
"Was mich auf professioneller Ebene wirklich störte, war die Tasache, dass ich niemals das Gefühl hatte, dass sie jemals voll hinter hinter mir standen. Meine Fanbasis, wie ich populär wurde - [all dies geschah] trotz ihnen. Anstatt mir den Ball zu geben und mich damit losrennen zu lassen, gaben sie mir nur den Ball, um ihn für jemand anderes warm zu halten. Ich wollte [jedoch] immer nur der Mann sein, [der mit dem Ball losrennt] ..."
Ausgerechnet an seinem letzten Abend gab man ihm dann schließlich den Ball ... und CM Punk dankte es der Promotion mit einem Home Run. Man kann wohl sicher davon ausgehen, dass der Straight Edge Superstar bereits einen Anschlussvertrag unterschrieben hat und irgendwann dieses Jahr in das TV-Programm der WWE zurückkehren wird. Dennoch bedurfte es einigen Mutes, einen Wrestler, der sich im TV derart offen über die Unternehmenspolitik der WWE lustig machte und diverse Mißstände der letzten Jahren mit scharfer Zunge vor einem Millionenpublikum thematisierte, an seinem letzten Arbeitstag vor einer längeren Pause noch mit dem Gewinn des WWE-Titels zu belohnen. Wohlgemerkt mit einem Sieg über das größte (Vorzeige-)Babyface der Company. Denn viele Dinge, auf die Punk in seinen Wutreden Bezug nahm, haben sicherlich auch das Potenzial, für negative Publicity für die WWE zu sorgen und stellen daher durchaus eine Gefahr dar, dem an der Börse notierten und von Aktionären argwöhnisch beäugten Unternehmen einen (kleineren) Image-Schaden zu verpassen (und damit Geld zu kosten). Auf der anderen Seite hat die Storyline aber CM Punk mit einer plötzlich eintretenden Urgewalt auf ein neues Level katapultiert. Seit Stone Cold Steve Austin hat das WWE-Universe nicht mehr einen derart frech daher kommenden Rebellen gesehen, der in nur wenigen Sekunden am Mikrofon eine ganze Halle zum Kochen bringen kann. Doch auch ein Austin brauchte damals eine Initialzündung, um zu explodieren. Als die WWE sein Potenzial schließlich endlich erkannte, wurde er einer der größten "Draws" in der Geschichte der Promotion und machte Vince McMahon zum Milliardär. Manchmal braucht es eben Mut beim Booking, um bestimmte Stimmungen in der Fanszene zu erfassen und dann kanalisiert auf einen Superstar zu übertragen. Mit CM Punk ist die WWE in den letzten drei Wochen ein großes Risiko eingegangen. Doch schon jetzt kann man wohl bilanzieren: Sie haben beim gestrigen PPV wirklich alles richtig gemacht. Das Booking im Main Event schützte John Cena und gab dem Herausforderer dennoch am Ende Gelegenheit zum totalen Triumph über "Coporate WWE". Besser hätte man einen neuen Star eigentlich nicht in den Kosmos der allergrößten WWE-Legenden katapultieren können.
Wenn CM Punk irgendwann im Herbst oder Winter in die WWE zurückkehren wird, dürfte er - ein entsprechend gutes Booking vorausgesetzt - der größte Star im kompletten Roster sein. Er wird wahrscheinlich sogar das Potenzial haben, bei WrestleMania 28 in Miami den große Kampf "John Cena vs. The Rock" zu überstrahlen und in den Schatten zu stellen. Desweiteren dürfte er ohne jeden Zweifel bei jedem PPV, bei jeder TV-Show und bei jeder Houseshow (zumindest für eine Weile) der größte Draw der Promotion sein, wenn man sein Momentum nicht durch unbedachte Booking-Torheiten wieder zum Zusammenbruch bringt. Nach gestern steht fest: Dieser Punk ist "Money in the Bank". Die WWE muss nur noch die Gelddruckmaschine anwerfen, um mit ihm in eine neue Ära vorzustoßen. John Cena hat plötzlich und unerwartet Konkurrenz um die Position Nummer 1 der WWE bekommen. PG goes to sleep, wie die Fanreaktionen in Chicago bewiesen haben. Und darüber dürfen sich alle Fans der Promotion nur freuen, denn es könnte das TV-Programm der WWE in aufregende neue Dimensionen hieven. CM Punk führt nach den letzten fünf Kämpfen gegen Cena übrigens im Moment mit 5-0.
Lionheart
Quelle:
http://www.moonsault.de