Corona-Tote Neun Lebensjahre verloren
Sterben am Coronavirus nur Alte und Schwache? Einige behaupten dies. Auch Grünen-Politiker Boris Palmer hatte sich ähnlich geäußert. Eine Analyse des NDR zeigt aber: Viele an Corona Verstorbene hätten wohl noch lange gelebt.
Von Björn Schwentker und Jan Lukas Strozyk, NDR
Die Diskussion um Lockerungen der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus ist zu einem verhärteten Meinungskampf geworden. Oft wird dabei behauptet, was politisch opportun ist - auch wenn es keinen wissenschaftlichen Nachweis dafür gibt. Gegner der Einschränkungen führen etwa das Argument an, das Virus sei nur eine Gefahr für Menschen, die bereits sehr alt und krank seien - und darum ohnehin nur noch kurz zu leben hätten.
Mit Hilfe einer statistischen Berechnung lässt sich abschätzen, wie viele Lebensjahre ein in Deutschland verstorbener Mensch, bei dem das Coronavirus nachgewiesen wurde, tatsächlich verloren hat - also wie viel länger er oder sie ohne die Erkrankung durchschnittlich noch gelebt hätte. Eine entsprechende Analyse des
NDR kommt zu dem Ergebnis, dass dieser Wert bundesweit bei 10,7 Jahren für Männer und 9,3 Jahren für Frauen liegt.
Bremer Männer verloren 15 Lebensjahre
Grundlage dieser Zahlen sind die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland, sowie die Mittelwerte der Altersangaben der 6115 verstorbenen Corona-Patienten, die das Robert-Koch-Institut (RKI) bis zum 29. April erfasst hatte. Dabei zeigen sich größere regionale Unterschiede: In Bremen beispielsweise verlor ein verstorbener männlicher Corona-Patient im Schnitt mehr als 15 Jahre, ein weiblicher etwas über sieben.
Mecklenburg-Vorpommern ist das einzige Bundesland, in dem Frauen im Schnitt mehr Lebensjahre (13,9) verloren haben als Männer (12,3). Solche Unterschiede kommen auch dadurch zustande, dass die Datenbasis in bevölkerungsärmeren Bundesländern relativ klein ist: In Bremen etwa sind insgesamt nur etwa 30 Corona-Patienten verstorben, daher können einzelne besonders jung oder alt Verstorbene einen größeren Unterschied ausmachen.
Forscher berechnen auch Vorerkrankungen ein
Die Berechnungen orientieren sich an den Ergebnissen einer Forschergruppe von der University of Glasgow in Großbritannien, die für eine Studie den Verlust von Lebensjahren von Covid-19-Opfern auf Basis von Daten aus Italien und Großbritannien analysiert hat. Sie errechneten dabei sogar etwas höhere Werte von 14 Jahren bei Männern und 12 Jahren bei Frauen.
Die Wissenschaftler arbeiteten zusätzlich noch die Auswirkungen von Vorerkrankungen in ihr mathematisches Modell ein. So reduzierte sich die errechnete Zahl um etwa ein Jahr. Männer, die mit positiver Corona-Diagnose verstorben sind, sind demnach um 13 Jahre verfrüht gestorben, Frauen um elf Jahre.
Auch Deutschlands Vorerkrankte verlieren Lebenszeit
Überträgt man die in der britischen Studie veröffentlichten Annahmen für die Auswirkung von Vorerkrankungen auf Deutschland, so ergibt sich hierzulande durch den Tod an Covid-19 immer noch ein Verlust von 9,9 Jahren Lebenszeit für Männer und 8,5 Jahren für Frauen. Auch viele Corona-Patienten, die Vorerkrankungen hatten, sind also demnach deutlich früher gestorben, als statistisch zu erwarten gewesen wäre.
In Deutschland könne man mit einer Vorerkrankung, wie sie bei Corona-Verstorbenen häufig sei, noch viele Jahre leben, sagt Clemens Wendtner, Chefarzt der Abteilung für Infektologie an der Uniklinik in München-Schwabing. "An vielen Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes oder Demenz stirbt man heute ja nicht unbedingt früher."
Die Ergebnisse der Studie aus Großbritannien hält er für "realistisch". Die ihm bekannten Todesfälle im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie "hätten ohne Covid-19 noch eine sehr gute Lebenserwartung gehabt", sagte Wendtner dem
NDR. Selbst mit einem Herzinfarkt könne man noch gut weiterleben. "Das ermöglicht die moderne Medizin."
Analyse widerlegt Palmers Aussagen
Die Debatte um den Verlust von Lebensjahren hatte unter anderem Fahrt aufgenommen, nachdem der Tübinger Bürgermeister Boris Palmer im Sat.1-Frühstücksfernsehen behauptet hatte: "Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Der Grünen-Politiker war daraufhin unter anderem
von seiner eigenen Partei kritisiert worden. Ihm droht nun
sogar ein Parteiausschlussverfahren.
Die Studie der britischen Forscher und die Analyse des
NDR zeigen: Palmers Aussage mag auf wenige Einzelfälle zutreffen, für das Gros der Patienten stimmt sie nicht.
Die Wissenschaftler in Glasgow schreiben, fast jeder einzelne Verstorbene habe mehr als ein bis zwei Lebensjahre verloren, selbst wenn man die Vorerkrankungen berücksichtige. Im Durchschnitt sei es mehr als ein Jahrzehnt gewesen. Der Münchner Chefarzt Clemens-Martin Wendtner, der selbst über 700 Corona-Patienten behandelt hat, warnt deshalb: "Statements wie die von Boris Palmer sind eine absolute Verharmlosung des Geschehens.“
Investigativ
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