Hier werden wir uns nie einig sein. Ich halte deine Entscheidung auch für höchst unmoralisch. Denn beide Personen würden mit dem Eingreifen mit Sicherheit überleben, du riskierst aber das Leben eines Unschuldigen, um das Leben einer Person zu retten, die sich freiwillig in diese Situation gebracht hat.
(Ich hatte btw. einen Zahlendreher im Beispiel. Mein Fehler. Die Überlebenswahrscheinlichkeit des Gleisarbeiters müsste, wenn ich deine Moral nun richtig einschätze, höher sein, damit du sein Leben aufs Spiel setzt, um den Tiktoker zu retten)
Aber ich kann deine Moral gerne noch weiter prüfen: Du hast auf dem Gleis keinen Tiktoker, sondern einen Menschen, der Suizid begehen will. Er stirbt zu 100 %, wenn du auf ihn zufährst. Der Gleisarbeiter stirbt nur zu 80 %. Wenn du also die Weichen Richtung Gleisarbeiter stellst, hast du eine Chance, dass beide überleben. Würdest du das Risiko eingehen?
Unter der strengen Voraussetzung, dass die suizidale Person tatsächlich einen zeitlich stabilen Sterbewunsch hat, der nicht auf einer Erkrankung oder Unzurechnungsfähigkeit beruht, halte ich beide Entscheidungsalternativen für ethisch vertretbar.
Zur Begründung muss ich kurz auf die gesellschaftliche Funktion von Ethik und Moral eingehen, die mE primär darin besteht, den Zusammenhalt einer Gemeinschaft durch Förderung von wechselseitigem Vertrauen zu stabilisieren. Dies geschieht durch Konditionierung an Regeln und Prinzipien, die sich zum Schutz übergeordneter gesamtgesellschaftlicher Ziele wie zb Freiheit und Sicherheit besonders gut bewährt haben, da sie gemeinschaftliche und Individualinteressen gut ausbalancieren. Einige dieser Prinzipien sind fundamental, andere weniger und es liegt in der Natur der Sache, dass sie nicht in jeder denkbaren Situation für einen zufriedenstellenden Interessensausgleich sorgen können. Dies führt mitunter soweit, dass uns in bestimmten Situationen Abweichungen von bewährten Prinzipien sogar geboten erscheinen können. In anderen Situationen wiederum scheint gar keine zufriedenstellende Lösung möglich, denn egal wie wir uns entscheiden, es wird immer ein fundamentales Prinzip verletzt. In solchen Situationen geht dann darum, die Entscheidung zu so begründen, dass die fundamentale Prinzipien von denen abgewichen werden soll, möglichst wenig beschädigt werden.
Eine solche Begründung könnte im Fall, dass die Entscheidung getroffen wird, den nicht krankhaft Suizidalen zu gefährden, so aussehen, dass man argumentiert, dass trotz Verletzung des Gleichwertigkeitsprinzips dennoch mit der Entscheidung die Interessen aller Beteiligter gewahrt bleiben, d.h. die o.g. Schutzfunktion durch das Gleichwertigkeitsprinzip wird gar nicht benötigt und die Ethik hält sich raus. Im Falle der Triage könnte man allerdings nicht so argumentieren, denn anders als beim Suizidalen liegt hier die Nichtbehandlung des Ungeimpften nicht auch in seinem Interesse. Letzteres versuchst Du zwar zu suggerieren, indem Du von Quasi-Suizidal sprichst und einen Willen unterstellst in der Situation zu sein. Doch folgt aus der Entscheidung gegen die Impfung und für ein erhöhtes Risiko nicht, dass der Betreffende das Risiko einschließlich der möglichen Konsequenzen auch tatsächlich will, jedenfalls nicht im Sinne eines Interesses.
Ich rede mich nicht raus. Das war der erste Beitrag zu der Thematik, bevor du in die Diskussion kamst:
Wenn du nur die Hälfte liest, solltest du nicht mich dafür verantwortlich machen.
Es folgte noch ein weiterer Beitrag von Dir mit einem Spoiler, den ich recht eindeutig fand.
Ja, in meiner Moralvorstellung wird das Selbstverschulden sehr hoch gewichtet. Steht es über allem anderen? Selbstverständlich nicht. Das wurde von mir auch nie so behauptet. Ich habe immer klare Grenzen dieser Selbstverschuldung formuliert.
Zu der Aussage stehe ich weiterhin. Dein Beispiel mit der nicht-konsensuellen sexuellen Handlung war schlicht unpassend, weil man auch bei legitimen, naturgetriebenen Tätigkeiten moralisch und rechtlich fragwürdige Taten begehen kann. Das Beispiel wäre hier wieder die natürliche Nahrungszunahme, aber der moralisch frageürdige Kannibalismus.
Du solltest evtl. mal ein gutes Buch zum Thema Argumentationstechnik lesen. Wenn Du behauptest, dass für präferenzbasierte (naturgetriebe) sexuelle Handlungen Eigenverantwortung ausgeschlossen sei, dann ist das eine All-Aussage, die sich formallogisch auch so ausdrücken lässt:
Wenn eine sexuelle Handlung naturgetrieben ist,
dann ist keine Eigenverantwortung möglich.
Dieser Satz (und damit Deine Behauptung) ist bereits mit der Existenz nur einer einzigen naturgetriebenen sexuellen Handlung, für die Eigenverantwortung unterstellt wird, widerlegt. So wie die All-Aussage „Alle Schwäne sind weiß“ mit der Existenz eines einzigen schwarzen Schwans als Gegenbeispiel widerlegt wäre.
Sexuelle Handlungen als Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sind hier die eindeutigsten Gegenbeispiele, da Du bei denen die Eigenverantwortlichkeit schwarz auf weiß von einem Richter bestätigt bekommst. Die Feststellung von Eigenverantwortlichkeit ist nämlich Teil des strafrechtlichen Prüfschemas. Das alles ist soweit auch keine Vermengung von Moral und Recht, sondern simple Aussagenlogik.
Das Beispiel nichtkonsensueller sexueller Handlungen eignet sich deshalb ganz hervorragend um zwei Dinge zu erkennen:
1. Alleine dass eine sexuelle Handlung auf naturgegeben Trieben basiert, begründet keinen Ausschluß der Eigenverantwortlichkeit.
2. Die „Natürlichkeit“ einer Handlung ist offensichtlich kein geeigneter Maßstab zur Bestimmung des Grades an Entscheidungsfreiheit.
Ursprünglich solllte die Homosexuellenverfolgung im Iran aber nur zur Veranschaulichung der Tatsache dienen, dass der Rückgriff auf das Eigenverantwortungsprinzip grundsätzlich kein ethisches Gütekriterium ist. Eigenverantwortung des Handelns kann die Grundlage sowohl für Entscheidungen bilden, die wir ethisch als richtig erkennen, als auch für Entscheidungen, die - wie eben im Iran-Beispiel - schwere Menschenrechtsverletzungen darstellen.
Das Eigenverantwortungsprinzip in Form des Mottos „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, findet man sogar eher in archaischen Gesellschaften.
Ja, das Problem hier ist, dass wir rechtliche und moralische Komponenten vermischen und darum offensichtlich an verschiedenen Stellen aneinander vorbeireden. Die Moral und die daraus abgeleiteten rechtlichen Grundlagen sind nicht identisch. So halte ich bspw. Gefängnisstrafen für unmoralisch. Denn jemanden einzusperren widerspricht meiner moralischen Vorstellung eines freien Lebens. Gleichzeitig akzeptiere ich, dass es die Ahndung von Straftaten ist, die am ehesten mit meiner Moralvorstellung zu vereinbaren ist.
Um es endlich wieder klar zu trennen, kann ich meine Vorstellungen gerne nochmal nach strafrechtlich und moralisch trennen:
Moral: Wer sich selbstverschuldet in eine Situation begibt, dass er krank werden oder sterben kann, ohne jegliche reale Begründung dafür, ist im Zweifelsfall weniger schützenswert als eine Person, die sich unfreiwillig in diese Situation begeben hat. Extrembeispiel wäre hier ein Suizidwilliger und ein Gleisarbeiter bei einem Zug. Wenn ich hier einen retten müsste, wäre es ohne jede Frage immer der Gleisarbeiter, weil er nicht in dieser Situation sein will.
Wo diese Grenze zwischen Freiwilligkeit und Selbstverschuldung liegt, kann man selbstverständlich nun hinterfragen und ich stehe auch dazu, dass diese Grenze nicht ganz klar definiert werden kann. Meiner Ansicht nach ist eine homosexuelle Handlung so bspw. eine natürliche Handlung, ein Impfverzicht ohne medizinische oder psychische Gründe aber nicht. Entsprechend ist Ersteres vertretbar, Zweiteres nicht.
Dass man hier durchaus auch andere Grenzen ziehen kann, will ich nicht abstreiten. Nur begeben wir uns dann in Detailfiskussionen, die nicht mehr viel mit der eigentlichen Thematik zu tun haben. In anderen Themenfeldern könnte man dann auch über die Moral der Ernährung diskutieren. Warum essen wir Tiere, aber keine Menschen? Warum Pflanzen, aber keine Tiere? Warum töten wir Ameisen, aber keine Menschen? Warum schützen wir manche Tiere, aber Insekten sind uns egal? Irgendwo ziehen wir die Grenze, was wir für moralisch vertretbar halten und was nicht.
Recht: ein Ungeimpfter sollte bei einem Impfverzicht in Bezug auf die medizinische Behandlung eine Verzichterklärung unterzeichnen müssen. Diese Verzichterklärung ginge mit allen Regeln und Handhabungen einer bereits existierenden Verzichterklärung einher. Würde ich, rein von meiner Moral, weiter gehen? Möglich. Schwierig zu sagen, weil ich, wie bereits . Rechtlich ist die Situation aber klar.
Auf die entscheidenden Punkte dieses Abschnitts bin ich weiter oben bereits eingegangen. Ich lasse ihn zur besseren Nachvollziehbarkeit stehen.