Interessanter Artikel, der beweist, wie wichtig öffentlich finanzierte Grundlagenforschung ist!
Patente bremsen die Impfstoffproduktion
Inzwischen stehen mehrere Corona-Impfstoffe zur Verfügung, aber sie reichen längst noch nicht für alle. Experten und Regierungen fordern deshalb, Patente auszusetzen. Doch die Pharmaindustrie wehrt sich.
Etwa 50 Millionen Menschen weltweit wurden bereits gegen das neue Coronavirus geimpft. Doch das Impfen geht nur langsam voran, in vielen ärmeren Ländern so gut wie gar nicht. Denn es fehlt an Impfstoff. Mehrere Wissenschaftler und Nichtregierungsorganisationen fordern deshalb, den Patentschutz auf die Mittel auszusetzen, damit auch andere Unternehmen die Impfstoffe herstellen können und dadurch schneller mehr zur Verfügung steht.
Auch mehrere Staaten dringen darauf und haben einen entsprechenden Antrag bei der Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht. Sie wollen eine Ausnahme der internationalen Patentregeln für die Zeit der Pandemie erreichen.
Die weltweiten Standards zum Schutz von geistigem Eigentum, das sogenannte TRIPS-Abkommen, haben die WTO-Staaten in den 1990er-Jahren beschlossen, auch auf Druck großer Pharmakonzerne. Die Entwickler von Medikamenten oder Impfstoffen genießen seitdem umfassende Rechte. Ihre Patente sind für bis zu 20 Jahre geschützt. In diesem Zeitraum dürfen nur sie die Mittel herstellen oder produzieren lassen.
Jetzt, während der Pandemie, könnte dies viele Leben kosten, sagen Kritiker der Patentregeln. Auch viele internationale Organisationen, darunter die UN-Menschenrechtskommission, die UNESCO und die Weltgesundheitsorganisation (WHO), fordern einen offenen Zugang zu Daten und Informationen.
Im Mai hatte die WHO bereits Rechteinhaber dazu aufgerufen, Patente in einen gemeinsamen Pool einzuspeisen. Staaten sollten entsprechende Klauseln in die Verträge mit Pharmaunternehmen aufnehmen. Doch bis heute hat nach
NDR-Recherchen keine Firma Rechte eingespeist.
Pharmaunternehmen wollen Patente nicht freigeben
Denn die Pharmaunternehmen wollen ihre Patente nicht freigeben. Vertreter der Industrie erklärten in den vergangenen Monaten wiederholt, der Schutz geistigen Eigentums mache Erfindungen erst möglich. Nur so gebe es Anreize zu investieren. Insofern sei es Unsinn oder sogar gefährlich, eine solche Initiative zu unterstützen, sagte etwa Pfizer-Chef Albert Bourla während einer virtuellen Pressekonferenz im Mai.
Der Generaldirektor des Internationalen Pharmaverbands (IFPMA) in Genf, Thomas Cueni, äußerte aktuell die Befürchtung, dass Firmen möglicherweise nicht bereit seien, eine solch "außerordentliche Leistung" wie jetzt erneut zu erbringen, wenn man ihnen sage, dass in einer Pandemie der Schutz des geistigen Eigentums nicht mehr gelte. Außerdem sei "nicht ein einziger Impfstoff mehr da, wenn man das jetzt machen würde", sagte Cueni im
NDR-Interview.
"Lösung, um mehr Impfstoffe zu produzieren"
Dem widersprechen jedoch Fachleute wie Zoltán Kis vom Imperial College in London. Er forscht zu neuen Methoden zur Herstellung von Impfstoffen. Das Offenlegen von Know-How und Patenten "könnte sicher eine Lösung sein, um mehr Impfstoffe zu produzieren", sagte er dem
NDR. Denn wenn man die Technologie für verschiedene Hersteller zur Verfügung stellen würde, dann könnte man "sicherlich viel mehr Impfstoffe" produzieren. "Und das wäre eine gute Sache für die Überwindung der Pandemie", so Kis.
Forschungsgrundlagen für die schnelle Corona-Impfstoff-Entwicklung sei jahrzehntelang an öffentlich finanzierten Universitäten geschaffen worden
Mehrere Wissenschaftler und Nichtregierungsorganisationen kritisieren die Pharmaunternehmen scharf. Ärzte ohne Grenzen etwa wirft den Konzernen vor, dass sie selbst inmitten einer globalen Pandemie "an ihrem Business-as-usual-Ansatz der Profitmaximierung" festhielten. Die Organisation erklärte, die Pharmaindustrie behaupte immer wieder fälschlicherweise, dass erst geistige Eigentumsrechte den Durchbruch für Covid-19-Impfstoffe und -Medikamente gebracht hätten. Tatsächlich seien aber Steuern in Milliardenhöhe und Geld von Stiftungen die Haupttreiber der beispiellosen Forschungsanstrengungen zu Covid-19, so Ärzte ohne Grenzen.
Und Suerie Moon, Co-Direktorin des Global Health Centre in Genf, weist darauf hin, dass die Forschungsgrundlagen für die schnelle Corona-Impfstoff-Entwicklung jahrzehntelang an öffentlich finanzierten Universitäten geschaffen worden seien. Sie sieht vor allem Staaten in der Verantwortung. Diese sollten von Pharmaunternehmen verlangen, dass sie ihre Technologie weitergeben, "damit möglichst viele verschiedene Hersteller auf der ganzen Welt mit der Produktion beginnen können", sagte sie dem
NDR. Sie fordert die Impfstoff-Technologien in der jetzigen Notsituation als "globales öffentliches Gut" zu teilen, "so dass alle auf der Welt davon profitieren".
Human Rights Watch argumentiert in einem Bericht, dass Regierungen menschenrechtlich sogar dazu verpflichtet seien, "dafür zu sorgen, dass der wissenschaftliche Nutzen der von ihnen mit öffentlichen Geldern finanzierten Forschung so weit wie möglich geteilt wird, um das Leben, die Gesundheit und die Lebensgrundlagen der Menschen zu schützen".
Anderes Bezahlsystem für Pharmaforschung
Auch der Ökonom James Love von der Organisation Knowledge Ecology International in Washington fordert schon lange ein grundlegendes Umsteuern. Er sagt, das Belohnungssystem für die Industrie müsse sich ändern, um den Zugang zu neuen Medikamenten und Impfstoffen zu verbessern. Eine Möglichkeit wäre etwa, einen globalen Fonds aufzusetzen, aus dem Prämien für die Entwicklung benötigter Arzneimittel bezahlt würden. Oder die Pharmafirmen könnten an den Umsätzen von Nachahmerprodukten beteiligt werden, wenn sie ihre Erfindungen offenlegten und dann andere Firmen die Mittel herstellen und verkaufen.
Leider sei die Debatte darüber aber schwierig, sagt Love. "Die Leute tun einfach so, als ob es niemals irgendwelche Änderungen am grundlegenden Modell der Gewährung von Monopolen auf Erfindungen geben dürfte." Kurzfristig, in der aktuellen Pandemie, ist es seiner Ansicht nach deshalb nötig, die Unternehmen dazu zu zwingen, ihr Know-How zu teilen.
Debatte in Welthandelsorganisation
Das fordern jetzt auch einige Staaten. Im Herbst hatten Südafrika und Indien bei der WTO einen Antrag eingereicht. Die Staaten wollen erreichen, dass einzelne Länder die Patente zu Produkten aussetzen können, die zur Eindämmung der Pandemie nötig sind. Mehr als die Hälfte der WTO-Mitgliedsländer unterstützt den Antrag. Das reicht aber nicht für einen Beschluss. Normalerweise versucht die Organisation, Entscheidungen im Konsens zu treffen. Möglich ist aber auch ein Beschluss mit einer Drei-Viertel-Mehrheit.
Im März treffen sich die Mitglieder des zuständigen TRIPS-Rates zu ihren nächsten offiziellen Beratungen. Dass dort eine Entscheidung getroffen wird, erscheint jedoch unwahrscheinlich. Denn unter anderem die EU, die USA, Japan und Großbritannien sind gegen ein Aussetzen des Patentschutzes. Sie verteidigen damit ein System, das vor allem Unternehmen nutzt, die in den reichen Ländern ihren Sitz haben.
Deutschland gegen Aussetzen von Patenten
Dabei hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel im April vergangenen Jahres noch gesagt, es handele sich "um ein globales öffentliches Gut, einen Corona-Impfstoff zu produzieren und ihn dann auch in alle Teile der Welt zu verteilen".
Auf Anfrage des
NDR teilte das in Deutschland zuständige Bundesjustizministerium nun mit, es gebe "keine Belege dafür, dass gerade der Schutz geistiger Eigentumsrechte eine angemessene Versorgung mit Produkten behindert". Das wichtigste Mittel für eine arbeitsteilige Produktion sei die "freiwillige Erteilung von Lizenzen durch die Rechteinhaber". Generell sieht das Ministerium den Schutz geistiger Eigentumsrechte als "einen wichtigen marktbasierten Anreiz für die Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen durch private Unternehmen".
Kampf gegen die Pandemie: Bremsen Patente die Impfstoffproduktion? | tagesschau.de