Schaut man auf die Website der Hamburger Sozialbehörde, als Landesgesundheitsbehörde für Seuchenschutz zuständig, dann ist noch am Dienstag, als wäre nichts Besonderes los.
Affenpocken? Hier doch nicht. Kein Wort dazu zu finden. Dieselbe beredte Leere bei CASAblanca, der städtischen Beratungsstelle für sexuell übertragbare Krankheiten. Dabei sind
Affenpocken inzwischen unbestreitbar in Hamburg unterwegs, inzwischen gibt es rund 20 Fälle, und es ist per Definition eine Geschlechtskrankheit. Davon spricht man, wenn Infektionen zwar nicht ausschließlich, aber hauptsächlich durch Sex übertragen werden.
Bisher haben sich in Deutschland in wenigen Wochen 230 Menschen mit dem Affenpockenvirus angesteckt, und das, so erzählten es die Betroffenen den Epidemiologen, dann, wenn Dates körperlich wurden. Diese Infektion, davon ist der Hamburger Spezialist für neu auftretende
Krankheiten Stefan Schmiedel inzwischen überzeugt wird bleiben, wenn man das jetzt einfach laufen lässt. Und trotzdem verlieren die Berater von CASAblanca kein Wort dazu, wie sie jetzt zum Beispiel Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter schützen können, oder aber schwule Männer.
Was ist da los?
In Hintergrundgesprächen ist zu hören: Die Beteiligten haben Angst. Angst, dass ihnen Fakten als Stigmatisierung ausgelegt werden könnten. Noch gibt es in ganz Europa nur einzelne Frauen, die betroffen sind, noch sind nahezu alle Infizierten Männer, die Männer lieben. Die Hochrisikogruppe ist also eine Community, die immer noch zu oft mit schlechten Witzen überzogen wird. Viele der heutigen Infizierten sind alt genug, um die Anfänge der HIV-Pandemie zu erinnern. Sehr schlechte Erinnerungen: Damals bekleckerten sich Medien nicht gerade mit Ruhm, als sie von der "Schwulenseuche" schrieben. Nur: Der schwulen Community hilft es ganz und gar nicht, wenn ihnen jetzt keiner sagen mag, wie sehr sie gerade im Risiko stehen.
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Auch bei
HIV half die nüchterne Beobachtung, dass die neue Erkrankung zunächst vor allem in den einschlägigen Saunaclubs umging. Dieses Wissen zu verbreiten war damals unverzichtbar, nur damit konnten sich zu Beginn die Männer schützen. Sich und alle anderen, denn sexuell übertragbare Krankheiten werden zwar besonders häufig dort weitergegeben, wo Menschen besonders häufig Sex haben. Aber die Durchschnittshaushalte mit den gelegentlichen Affären erreichen sie irgendwann auch.
Mehr Verantwortungsbewusstsein als in der queeren Szene geht nicht
Die Idee, über alle möglichen Sexpraktiken und ihre Risiken so klar zu reden, dass alle verstehen, wann es gefährlich wird, entstand in der AIDS-Pandemie unter genau den Menschen, die als erste von der neuen Erkrankung heimgesucht wurden. Deren Freunde in so großer Zahl starben. Sie erfanden Safer Sex. Ihr Erbe ehren wir dann, wenn wir auch jetzt offen sprechen.
Es ist tragisch, dass es jetzt wieder die Regenbogencommunity trifft. Denn nein, die heute Infizierten haben in Berlin, Hamburg oder Köln nicht verantwortungslos herumgevögelt, als sie sich die Affenpocken holten. Anders als die heterosexuellen Vielnutzer von Datingapps nehmen ihre homosexuellen Pendants heute zum überwiegenden Teil antivirale Medikamente, trotz der Nebenwirkungen. Und zwar eben damit Viren nicht mehr wandern können, damit ihre Sexpartner sicher sind. Mehr Verantwortungsbewusstsein als in dieser Szene geht nicht.
Diese Medikamente funktionieren bei HIV, nicht bei den Pockenviren.
Was schützen könnte: Die 40.000 Impfstofffdosen, die gestern Deutschland erreicht hat. Davon sollen bis zu 3000 an Hamburg gehen. Sie könnten, klug unter die richtigen Leute gebracht, verhindern, dass am Ende Kinder und Schwangere sterben. Denn darum geht es bei den Affenpocken auch: Wenn sich das Virus ausbreitet, sind die Gruppen, die sie nach den sexuell besonders aktiven Männern bekommen könnten, die sich nicht nur im Bett sondern auch zu Hause am Esstisch anstecken, viel empfindlicher.
Leider reicht, um Frauen und Kinder zu impfen, das Vakzin im Moment nicht einmal ansatzweise aus. Was also ist die Strategie der Sozialbehörde, die das knappe Immungut verteilen muss? Die Impfstoffe gehen an diejenigen Fachpraxen, die auch die Vorsorge gegen HIV betreuen. Sie sollen in Hamburg entscheiden, wer den Pieks bekommt. Gut daran ist: Diese Praxen sind die medizinischen Zentren der Sexparty-Szene, der Impfstoff ist hier also genau dort, wo sich der Ausbruch gerade konzentriert. Schlecht ist: Für alle Männer mit häufig wechselnden Sexpartnern reicht der Impfstoff ebenfalls erstmal nicht.
Wie viele das sind, das schätzt der Berliner HIV-Arzt Heiko Jessen – der in diesen Fragen auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach berät – grob mit der Zahl der Männer ab, die mit HIV-Medikamenten vorsorgen. In Hamburg sind das etwa 6500. Doppelt so viele also, wie es für die Stadt Impfstoff geben soll.
Es wäre also dringend nötig, dass sich die Behörde mit den Betroffenen zusammensetzt und eine Strategie entwickelt, die trotz der Impfstoffknappheit wirken kann. Dabei müssen auch moralische Dilemmata auf den Tisch. Wem kann man Sexverzicht nahelegen, bis im Juli die nächste Impfstoffcharge kommt? Wem nicht, weil Sex ein unverzichtbarer – und womöglich finanziell existenzieller – Teil seines Lebens ist?
Hamburg, wir müssen endlich reden. Und zwar alle zusammen: Die, die jetzt das Risiko haben, sich zu infizieren, sollen offen darüber sprechen können, was für sie funktioniert. Und die, die sich möglichst gar nicht infizieren sollten, weil es für sie zu gefährlich wäre, müssen sagen dürfen, welchen Schutz sie von der Gemeinschaft erwarten.
Bevormundung ist lebensgefährlich
Es ist wirklich erstaunlich, dass ausgerechnet jene deutsche Stadt, die einen großen Teil ihres Nimbus auf die rund um die Reeperbahn zelebrierte Promiskuität gründet, sich hier nun solche Anfängerfehler erlaubt: Bisher hat noch niemand mit den Frauen im Gewerbe gesprochen, auch eine Präventionsstrategie gibt es nicht für sie. Nicht einmal ein Impfangebot für die Straßenprostituierten, die immer schon bei sexuell übertragbaren Krankheiten besonders gefährdet waren, den Frauen mit zehn Sexpartnern und mehr pro Tag, ist jetzt geplant. Teilnehmer aus Runden mit der städtischen Stellen erzählen, dass die Idee zwar diskutiert, aber dann seitens der Stadt abgelehnt wurde. Begründung wieder: das Stigma.
So bevormundet zu werden dürfte aus Sicht der Betroffenen nicht nur ärgerlich entmündigend sein, vor allem ist es lebensgefährlich. Die Frauen, die am Hansaplatz in St. Georg anschaffen gehen, schlafen und arbeiten auf der Straße, zwischen Dreck und Staub. Bekommen sie die Affenpocken, können sich die Blasen leicht mit Bakterien infizieren. Eine daraus folgende Blutvergiftung ist in Afrika der häufigste Weg, wie Affenpocken Menschen töten.
Schweigen und zuschauen hilft vielleicht weiter, um Twitter ohne Shitstorm zu überstehen. Gegen Viren aber richtet das nichts aus. Die Ankunft der Impfstoffe sollte ein Weckruf für Hamburg sein. Der Satz ist abgegriffen, stimmt aber immer noch: Wir müssen vor die Welle kommen. Dafür brauchen wir deutlich mehr Mut. Und endlich einen Plan. Bevor der Zug abgefahren ist.