a) Dass in einem urbanen Krieg Zivilisten (einschließlich Kinder) bei Kampfhandlungen sterben, ist ein robuster Erfahrungswert, den man als gesicherte Erkenntnis betrachten darf.
b) In welchem Ausmaß das in Gaza passiert, lässt sich nur mehr oder weniger plausibel schätzen. Selbst optimistische Schätzungen gehen von mind. mehreren tausend Opfern aus. Damit darf als hinlänglich bekannt vorausgesetzt werden, dass auch in Gaza Kinder sterben. Zur Verbesserung der Schätzgenauigkeit trägt der Tweet nichts bei.
c) Ob sich ein bestimmter Einzelfall tatsächlich so zugetragen hat wie von Hamas berichtet, kann dagegen immer nur gemutmaßt werden. Dass sich Einzelfälle schwer oder vielleicht niemals verifizieren lassen, ist unbefriedigend, aber kein rationales Argument sie als verifizierte Fälle zu werten.
d) Über die Verhältnismäßigkeit der Kriegsführung sagen weder a), b) noch c) sonderlich viel aus. a) und c) genau genommen gar nichts und b) nur sehr bedingt.
Aus dem Auge einer Person, die sich erst seit kurzem zum Konflikt informiert, vermittelt der Bericht tatsächlich keine Aussagekraft über das Ausmaß der unverhältnismäßigen Kriegsführung. Das ist dann wiederum das Problem des Empfängers und nicht mein Problem.
Aber das ist nicht der Punkt. Deine Ausführungen zur Informationslage sind zwar ganz interessant. Sie verharren nur auf einer Ebene, bei der ich schon seit einigen Monaten drüber stehe, weil der Status Quo dadurch in keinster Weise problematisiert wird: Die Öffentlichkeit darf sich nur auf Schätzungen und Mutmaßungen verlassen. Der Grund ist auch relativ einfach, den du auch hier grob fahrlässig ignorierst:
Israel unterbindet eine unabhängige, journalistische Berichterstattung und Aufarbeitung des Krieges. Darüber habe ich auch in den letzten Wochen hier im Thread genügend gepostet (etwa dass eine Reihe internationaler Medien Zugang zu Gaza erhalten wollen). In der Folge ergeben sich faktisch zwei große Quellen: Israel und die Hamas, also die Kriegsparteien selbst. Da Hamas eine Terrororganisation ist, schenkt man ihrer Propaganda selbstverständlich keinen Glauben. Damit bleibt nur Israel, oder in diesem Fall die IDF und Mitglieder des Netanyahu-Kabinetts. IDF und Regierung werden als verlässlich eingestuft, während alles aus Gaza praktisch angezweifelt wird, solange es nicht von eben genannten Quellen stammt.
Und da kann ich mich gerne nur aus einer vorangegangenen Diskussion wiederholen: Dieses kommunikationspsychologische Kalkül ist so leicht durchschaubar wie es nicht hinnehmbar ist. Die Forderung ist einfach:
Die kontrollierte Informationslage, die nichts weiter ist als eine propagandistische Euphemisierung zugunsten der IDF, gehört abgeschafft und durch neutralen Journalismus ersetzt.
Wird sich Israel einer solchen Forderung beugen? Das scheint aktuell nicht der Fall. Werden viele Menschen endlich anfangen, sich für freien, unabhängigen Journalismus einzusetzen? In unseren Breitengraden gebietet das zwar der gesunde Menschenverstand, aber das erwarte ich nun wirklich nicht. Da denke ich mir aber schon meinen Teil zu den Menschen, die unsere Werte überall und bedingungslos zu vertreten meinen, aber im Zuge der Israelloyalität komplett aussetzen lassen.
Um den Bogen nochmal zu den von israelischen Luftschlägen getöteten Neugeborenen zu schlagen: Die Hamas ist keine zuverlässige Quelle und die Faktenlage gibt nicht viel her. Jetzt kann man der IDF nachplappern oder seinen Grips einschalten. Es gibt zwei ausschlaggebende Punkte, warum solche Berichte bis zu einem gewissem Grad als glaubhaft eingestuft werden dürfen.
1) Sofern internationale Medien, Menschenrechtsorganisationen und Institutionen der Vereinten Nationen die Hamas-geführten Ministerien in vielen Fällen hinreichend als Quelle betrachten.
2) Sofern man nicht auf die abstoßende Ansicht behaart, dass alle Infos aus Gaza von der Hamas kommen, sondern tatsächlich auch sowas wie Zivilisten mit Zeugenaussagen existieren, deren Worte nicht sofort mit der Hamas gleichzusetzen sind und nicht jeder Vorgang plakativ mit "Hamas" verbunden werden kann. Hierfür würde es allein schon reichen, sich zu den konkreten Vorgängen, in diesem Fall die getöteten Neugeborenen, zu informieren und konkret auf diese einzugehen. Stattdessen wird eine Hamas-Beteiligung an der Verbreitung von Informationen unterstellt und sogar kollektiviert, da Zeugenaussagen mit Aussagen der Hamas gleichgesetzt werden. Ich lehne diese undifferenzierte Schuldzuweisung ab.
Wer mit der Knappheit unabhängiger Informationen ein Problem hat, dem steht es offen, Israels Unterdrückung von Journalismus zu kritisieren. Wer damit kein Problem hat, muss wohl oder übel mit "Mutmaßungen" und "Schätzungen" leben und kann sich von mir aus ungeniert über die Quelle dieser Mutmaßungen aufregen, statt über die Umstände, die diese Quelle als alternativlos erscheinen lassen. Das ist am Ende aber bei vielen gewollt; und da werde ich auch wieder gerne darauf hinweisen, dass Israel faktisch mit seiner Zugangsblockade den Nährboden für vermeintliche Propaganda-Narrative der Hamas schafft.