Die Szene ist vom Beifahrersitz gefilmt. Durch die Windschutzscheibe sieht man, wie mehrere Fahrzeuge eine leere Straße entlangfahren. Es ist stockdunkel, umso klarer erkennt man – und das ist ein entscheidendes Detail – die Blaulichter der Autos: Krankenwagen und ein Feuerwehrfahrzeug. Sie sind im Süden des
Gazastreifens unterwegs. Als sie an ihrem Ziel ankommen, halten sie an. Die Nothelfer wollen versuchen, die Besatzung eines anderen Krankenwagens zu retten, die in Rafah von israelischen Truppen beschossen wurde. Das Auto ist im Licht der Scheinwerfer am linken Straßenrand zu sehen.
Aber die Nothelfer geraten sofort selbst unter Feuer. Die Windschutzscheibe hat plötzlich Sprünge. Der Mann, der das Video filmt, springt aus der Tür und läuft vom Auto weg, während Salven von Gewehrfeuer zu hören sind. Das Video verwackelt, dann wird das Bild dunkel. Aber die Stimme des Nothelfers ist weiter zu hören – fünf Minuten lang. Er wimmert und betet, mal laut, mal leise. Währenddessen wird immer wieder geschossen. Am Ende, kurz bevor das Video abbricht, sind im Hintergrund Rufe zu hören.
Armee erteilte lange keine Genehmigung für eine Rettung
Der Vorfall liegt schon zwei Wochen zurück, aber er bringt die israelische Armee in große Bedrängnis. Der Vorwurf lautet, dass die Soldaten die Palästinenser in den Autos nicht nur erschossen hätten – sie hätten sie regelrecht hingerichtet. Die Armee weist das entschieden zurück. Aber andere Angaben, die sie zu dem Fall gemacht hat, werden durch die Videoaufnahme widerlegt.
Das fast sieben Minuten lange Video stammt laut Angaben des Palästinensischen
Roten Halbmonds (PRCS) von Rifaat Radwan. Er ist einer von 15 Personen, die am 23. März getötet wurden. Überwiegend handelte es sich um Mitarbeiter des PRCS. Um halb acht Uhr morgens teilte Nebal Farsakh, der Sprecher des Roten Halbmonds, an jenem Tag mit, dass mehrere Fahrzeuge in Rafah von israelischen Truppen seit Stunden „belagert“ würden; gemeint ist angegriffen. Nothelfer seien verwundet, der Kontakt zum Team sei abgerissen.
Einige Stunden später hieß es, man warte immer noch auf die Genehmigung der israelischen Armee, das Team aus der Gefahrenzone zu holen. Eine solche „Koordinierung“ ist überlebenswichtig für Nothelfer sowie Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und den
Vereinten Nationen. Andernfalls besteht die große Gefahr, während der Fahrt durch den Gazastreifen als feindliches Ziel eingestuft zu werden. Aber die vergangenen anderthalb Jahre des Gazakriegs haben gezeigt, dass selbst eine Koordinierung nicht zuverlässig schützt. Immer wieder hat es Angriffe auf Helfer gegeben, immer wieder Verwundete und Tote.
Schicksal der Nothelfer tagelang ungewiss
Das geschah offenbar auch mit einem Team des PRCS. Helfer machten sich um kurz vor vier Uhr nachts auf den Weg in das Viertel Tall al-Sultan, das bombardiert wurde. Mitte März hatte die israelische Armee ihre Attacken im Gazastreifen wiederaufgenommen. Ein erster Krankenwagen kam problemlos durch und kehrte zurück. Der zweite aber geriet unter Beschuss. Um die Kollegen aus der Gefahrenzone zu holen, schickte der PRCS weitere Fahrzeuge nach Rafah. Hinzu kamen ein Fahrzeug des Zivilschutzes und eines der UN. Auch zu ihnen riss der Kontakt ab. Das ist die Szene, die auf dem jetzt veröffentlichten Video festgehalten wird.
Damals wussten die Mitarbeiter in der Zentrale des Roten Halbmonds noch nicht, was genau geschehen war. Tagelang verschickte PRCS-Sprecher Farsakh Mitteilungen mit immer der gleichen Botschaft: Das Schicksal von neun vermissten Kollegen sei ungewiss. Die Armee lehnte alle Anträge ab, eine Rettungsmission zu schicken. Nur ein PRCS-Mitarbeiter, den Soldaten festgenommen hatten, wurde freigelassen.
Armee teilte dem PRCS mit, wo das Massengrab war
Nach fünf Tagen wurde ein Team des PRCS und der UN schließlich nach Rafah eingelassen. Sie entdeckten die Fahrzeuge, „völlig ausgebrannt und im Sand vergraben“, wie Farsakh mitteilte. Außerdem fanden die Helfer die Leiche eines Mitglieds des Zivilschutzes. „Bei Einbruch der Dunkelheit waren sie jedoch gezwungen, sich zurückzuziehen, da eine Fortsetzung der Suche unmöglich wurde.“ Am nächsten Tag verwehrte die Armee eine Wiederaufnahme der Mission. Die Suche nach den Vermissten werde „absichtlich behindert“, wirft der PRCS dem israelischen Militär vor.
Erst am siebten Tag konnte die Suchaktion fortgesetzt werden. 14 weitere Leichen wurden gefunden: acht Mitarbeiter des PRCS, fünf des Zivilschutzes in Gaza und einer von den UN. In einer Mitteilung des Roten Halbmonds hieß es: „Die Leichen konnten nur schwer geborgen werden, da sie im Sand vergraben waren und einige Anzeichen von Verwesung aufwiesen.“ Einer bleibt verschollen.
Später heißt es, die Armee habe den PRCS über den genauen Ort des Massengrabs informiert und empfohlen, Gerät zum Graben mitzubringen. Damit weitet sich der Fall aus. Der PRCS spricht jetzt von einem „Massaker“ und schreibt: „Dass die Besatzungsmacht Sanitäter des Roten Halbmonds ins Visier nimmt, obwohl ihre Mission geschützt ist und sie das Emblem des Roten Halbmonds tragen, kann nur als Kriegsverbrechen betrachtet werden, das nach dem humanitären Völkerrecht strafbar ist“.
Der PRCS ist als Organisation bekannt, die sich sachlich äußert und in der Regel keine vorschnellen Vorwürfe erhebt.
Armeesprecher hatte behauptet, die Fahrzeuge seien unmarkiert gewesen
Die israelische Armee hatte zu dem Fall vorerst nicht Stellung genommen. Am 23. März selbst gab es nur eine Mitteilung, wonach Truppen Tall al-Sultan „eingekreist“ hätten. Sie hätten „Terroristen eliminiert“. Zivilisten würden zu ihrer Sicherheit auf organisierte Weise aus dem Kampfgebiet gebracht. Jetzt muss die Armee sich schweren Vorwürfen stellen. Nach der Bergung der Leichen aus dem Massengrab zirkulieren Berichte, die humanitären Helfer seien angegriffen und einige von ihnen gezielt getötet worden. Mehrere Leichen seien mit zusammengebundenen Armen oder Beinen gefunden worden. Die Armee verneint nicht, dass Soldaten die Fahrzeuge beschossen haben. Als der Armeesprecher Nadav Shoshani am Donnerstag von Journalisten zu dem Fall befragt wurde, wirkte er defensiv. Er könne sich nicht zu Details äußern.
Gleichwohl verteidigte Shoshani das Vorgehen der Armee: Die attackierten Fahrzeuge seien unmarkiert gewesen, die Blaulichter nicht eingeschaltet, die Fahrt nicht koordiniert, sagte er. Soldaten hätten sich bedroht gefühlt, legte er nahe. Außerdem habe eine „erste Untersuchung“ ergeben, dass in den PRCS-Fahrzeugen neun Mitglieder der Hamas und des „Palästinensischen Islamischen Dschihads“ gesessen hätten. Die Berichte über gefesselte Leichen seien „offenkundig nicht wahr“, sagte Shoshani weiter und hebt hervor: Es habe „keine Hinrichtung“ gegeben.
Das Video, das auf einem Mobiltelefon bei der Leiche Rifaat Radwans gefunden wurde, zeigt indessen, dass diese Darstellung mindestens in Teilen falsch ist. Die Fahrzeuge sind markiert, sie haben blinkende Lichter, einige Insassen tragen zudem Uniformen oder Schutzwesten. Nach der Veröffentlichung der Aufnahme ändert die Armee ihre Linie: Dass die Fahrzeuge kein Blaulicht gehabt hätten, sei eine fehlerhafte Angabe gewesen, heißt es nun. Der Vorsitzende des PRCS forderte am Freitag eine unabhängige Untersuchung. Man traue der Armee nicht, sagte Younis Al-Khatib. Weiterhin gab er an, einige der Getöteten seien aus kurzer Entfernung erschossen worden. An diesem Montag will der PRCS auf einer Pressekonferenz in Ramallah weiteres Material vorlegen.Am Samstag äußerte sich auch einer von höchstens zwei Überlebenden des Vorfalls. Munther Abed, ein ehrenamtlicher PRCS-Mitarbeiter, berichtete verschiedenen Medien, er sei Teil des ersten Teams gewesen. Sie seien beschossen, er sei anschließend von Soldaten festgenommen und verprügelt worden. Dann habe er mitbekommen, wie Soldaten die später ankommenden Fahrzeuge ebenfalls beschossen hätten. Sie hätten „heftig gefeuert“. Im Dunkeln habe er nicht genau sehen können, was anschließend geschah. Nachdem es heller geworden war, habe er aber Blutspritzer an und in den Fahrzeugen erkennen können. Ein Bulldozer habe vier große Löcher im Sand geschaufelt. Dort seien die Fahrzeuge begraben worden. Von seinen Kollegen habe es keine Spur gegeben.