Heute hätten die Mitte/ Links Parteien die Chance gehabt, ein Gesetzesvorhaben, dass laut Tagesspiegel zufolge rund 75% der Deutschen befürworten, zu unterstützen und der AfD den Nährboden zu entziehen, indem man den Rechtspopulisten nicht mehr das Diskursmonopol in der Sache überlässt.
Du redest von einem "Wählerwillen". Als würde eine deutliche Mehrheit der Wähler dasselbe wollen. Ich zweifele das nicht nur an, ich halte es für eine der zentralen Fehleinschätzung unserer Gegenwart: Sehr viele Menschen glauben aktuell, das was sie beobachten, glauben, fordern, sei "der Wählerwille".
Ich entgegne dem, dass der Wählerwille insgesamt sehr diffus und sehr vielfältig ist. Es gibt bestimmte Dinge, auf die kann eine Mehrheit sich einigen. "Migration schafft Probleme" wäre sicherlich so eine Aussage. Sicherlich auch solche Sätze wie "Wer Verbrechen begeht, gehört bestraft."
Aber bereits bei der Frage, was das für Probleme sind, wie man sie angeht und was dabei die Prioritäten sind, sind sich viele Wähler bereits uneins. Ich gebe dir recht, dass viele Wähler vermutlich auch sich gar nicht so genau darum kümmern wollen. Sie wollen, dass Lösungen kommen.
Da sind wir aber ganz schnell auch bei der Frage der Wahrnehmung und der Erwartung. Es ist ja kein Zufall, dass häufig Menschen, die in ihrem Vorort leben und nicht mehr in die Innenstadt gehen, Angst von "grusligen Zuständen in der Innenstadt" haben, während Leute, die dort leben, das gar nicht so schlimm empfinden. Sprich: Wenn Menschen das Gefühl haben, es gebe "zu viel Migration", dann weiß ich gar nicht, ob es aktuell irgend eine Politik geben kann, die ihnen diese Angst nachhaltig nimmt. Außer Gefühls- und Identitätspolitik: Den starken Mann markieren, markige Sprüche machen, den Leuten das Gefühl geben, alles werde besser.
Das sieht man doch an der aktuellen Debatte überdeutlich. Es wird ein einzelner Mordfall zum Anlass genommen, große politische Linien zu entscheiden. Alexander Dobrindt hat das ja vorhin am Rednerpult par excellence durchgeführt: In einzelnen Details nochmal nacherzählt, wie der Mörder die Klinge in den Körper des Kindes stößt (obwohl die Familie darum gebeten hat, ihr Kind nicht zu instrumentalisieren). Als würde irgend etwas, das das Parlament heute beschließen kann, künftig Morde und Gewalttaten verhindern. Das ist reine Symbolpolitik.
Ich glaube, wahlentscheidend ist für viele Wähler das Gefühl, dass ihre Regierung Dinge anpackt und durchsetzt. Und an diesem Punkte blamieren sich leider gerade alle Parteien gleichermaßen. Es hat aber auch damit zu tun, dass parlamentarische Demokratie in einem Wahlrecht mit Mehrparteiensystem kein Durchregieren sein kann, sondern als Vorteil eben genau das hat, was ich eingangs angesprochen habe: Für eine breite Bevölkerung zu sprechen, indem viele verschiedene Gruppen mit eingebunden werden. Dabei kommen idealerweise kluge Kompromisse heraus, verwässert, aber breit akzeptabel. Unter der GroKo kam sehr viel Stillstand und gegenseitige Lähmung heraus. Unter der Ampel kam vor allem sehr viel Zank und Streit heraus.
Unsere Gesellschaft zerfasert und zersplittert gerade, und ein sehr grundsätzliches Problem besteht darin, dass Kompromisse immer schwieriger werden, weil zu viele einzelne kleine Gruppen glauben, sie würden "den Wählerwillen" repräsentieren und deswegen von ihren Forderungen nicht abweichen. Das hat verschiedene Ursachen, die Echokammern in Social Media sind eine davon.
Die Bundestagsdebatte heute ist leider ein abschreckendes Beispiel dafür. Da werfen Parteien sich gegenseitig vor, der andere hätte sich "nicht bewegen" wollen. Man wäre ja bereit gewesen für eine Einigung, "aber die anderen".
Die Ironie liegt darin, dass in Wirklichkeit Deutschland sogar davon profitieren würde, wenn Parteien wie CDU, SPD und Grüne sich tatsächlich auf einen Beschluss einigen und jeder Teile der eigenen Ideen einbringen darf, aber als kraftvolles Gesamtpaket und nicht als kleinste, zerredete Lösung: Also sowohl eine Begrenzung, als auch mehr Personal und schnellere Abläufe für die Behörden, als auch bessere Mittel für die Bildung und Integration.