Verwechselst du gerade Kriegsverbrechen mit Völkerrecht brechen? Den was letzteres angeht, dürfte Israel hier tatsächlich vor Russland liegen. WObei das zugegeben schwierig in der Beurteilung ist. Ich selbst bin mir auich nicht sicher, obder der Angriff Israels auf den Iran ein Bruch des Völkerrechts darstellt. Da sind die Experten ja gespalten.
Ein etwas längerer Exkurs ins Völkerrecht: Kriegsverbrechen sind Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht (
jus in bello; Recht im Krieg). Es regelt was
im Krieg erlaubt ist. Die Legitimität von Kriegen an sich ist eine andere Abteilung des Völkerrechts mit eigenen Spielregeln (
jus ad bellum; Recht zum Krieg). Dort geht es um die Frage unter welchen Voraussetzungen Staaten überhaupt Kriege führen dürfen. Falls Dich letzteres interessiert, findest Du einen fundierten Überblick mit allen relevanten Talking Points bei
Kretzmer.
Und ja, es gibt einige renommierte Völkerrechtler, welche Israels Angriff auf den Iran für legitim halten oder zumindest nicht evident völkerrechtswidrig (siehe
hier,
hier,
hier,
hier,
hier oder
hier). Argumente der Gegenposition findet man z.B.
hier,
hier und
hier. Einig sind sich alle, dass Selbstverteidigung gerechtfertigt ist wenn ein Angriff gerade stattfindet oder
immanent ist. Der wesentliche Streitpunkt ist die Auslegung von "immanent". Nach traditioneller Lesart ist ein Angriff immanent, wenn er gemäß der sog. Caroline Doktrin zeitlich unmittelbar bevorsteht. Einige Völkerrechtler halten das jedoch zu restriktiv und argumentieren für eine flexiblere, an den jeweiligen Kontext angepasste Auslegung, da sonst das Recht auf Selbstverteidigung zb bei einem drohenden Atomschlag gar nicht effektiv ausgeübt werden könnte und somit ins Leere laufen würde. Die Rechtsauffassung der Kontextualisten kommt u.a. im 8. Grundprinzip der
Bethlehem Doktrin zum Ausdruck:
Whether an armed attack may be regarded as “imminent” will fall to be assessed by reference to all relevant circumstances, including (a) the nature and immediacy of the threat, (b) the probability of an attack, (c) whether the anticipated attack is part of a concerted pattern of continuing armed activity, (d) the likely scale of the attack and the injury, loss, or damage likely to result therefrom in the absence of mitigating action, and (e) the likelihood that there will be other opportunities to undertake effective action in self-defense that may be expected to cause less serious collateral injury, loss, or damage. The absence of specific evidence of where an attack will takeplace or of the precise nature of an attack does not preclude a conclusion that an armed attack is imminent for purposes of the exercise of a right of self-defense, provided that there is a reasonable and objective basis for concluding that an armed attack is imminent.
Der Disput zwischen Restriktivismus und Kontextualismus steht übrigens für zwei grundsätzlich verschiedene Zugänge zum Verständnis des Völkerrechts und geht etwas tiefer als die Debatte über die Anwendung des Selbstverteidigungsrechts (
mehr dazu hier). Im Fall des Selbstverteidigungsrechts scheint die herrschende Meinung aber eher einer restriktive Auffassung anzuhängen, d.h. egal ob ein Kanonenkugel im 19.Jhd. oder ein Atombombe heute: Das Selbstverteidigungsrecht wird in beiden Fällen erst dann aktiviert, wenn das Geschoss aktiviert wird.
Wer jetzt auf eine abschließende Klärung durch den IGH hofft, wird enttäuscht. Um Völkerrecht zu verstehen, muss man sich klar machen, dass weder die herrschende Meinung der Völkerrechtler noch der IGH sowas wie Rechtsklarheit schaffen können wie man es von nationalen Gerichten wie dem Supreme Court oder dem BverfG gewohnt ist. Denn was im Völkerrecht gilt, entscheidet nicht der IGH, sondern das was Staaten tun (
state practice) und für ihr Recht halten (
opinio juris). Außerdem wozu sie sich durch Verträge und Konventionen verpflichten. Gemeinsame Staatenpraxis und opinio juris bilden das sog. Gewohnheitsvölkerrecht, das neben dem Vertragsrecht primäre Rechtsquelle im Völkerrecht und für den IGH ist. Der IGH kann die Existenz von Gewohnheitsrecht in seinen Urteilen und Rechtsgutachten nur
feststellen. Im Gegensatz zu den nationalen Gerichten markieren seine Urteile ferner keine Präzedenzfälle, die rechtsverbindliche Normen und für alle schaffen. Seine Urteile binden formal nur die Konfliktparteien in Bezug auf den konkreten Streitpunkt. Andere Staaten müssen dem nicht folgen und können eine abweichende Rechtsauffassung vertreten und dadurch hoffen die Entwicklung des Gewohnheitsrechts in die ihnen genehme Richtung zu lenken. Handlungen von Staaten werden also nicht nur völkerrechtlich bewertet, sie wirken auch rechtsschöpfend. Dazu eine kleine Anekdote:
Bis Anfang des 20.Jhd galt im Völkerrecht für Küstenstaaten die 3-Seemeilengrenze für Hoheitsgewässer (Reichweite einer Kanonenkugel). Aus politischen Gründen haben sich dann aber zunehmend mehr Küstenländer ein Recht auf eine 12-Meilengrenze proklamiert. Die USA hatten dem vehement widersprochen (auch aus politischen Gründen), konnte sich aber mit ihrer Rechtsauffassung nicht durchsetzen. So wurde die 12-Meilen-Grenze zum neuen Gewohnheitsrecht, dessen Existenz später durch den IGH bestätigt wurde. Für die Küste der USA galt jedoch viele Jahre weiterhin die alte 3-Meilengrenze, da die USA der 12-Meilenregel widersprochen hatten (
permanent objector status).
Völkerrecht ist in der Praxis also oft ein politisches Pokerspiel ohne Dealer und ohne feste Spielregeln, bei dem die Spieler selbst die Regeln festlegen und verändern und Völkerrechtler Kommentatoren sind, welche versuchen die aktuell gültigen Spielregeln zu entschlüsseln oder durch Zurufe zu beeinflussen. In diesem Fall hatte sich die USA schlicht verzockt.
Das sollte man zumindest im Hinterkopf behalten, wenn man sich fragt, was „das“ Völkerrecht sagt. Und warum es am Ende völkerrechtlich relevanter ist wie der deutsche Bundeskanzler Israels Angriff bewertet als jeder noch so renommierte Völkerrechtler.
Dabei soll aber nicht unterschlagen werden, dass ein Teil des Völkerrechts dieser Dynamik entzogen ist und als
zwingendes Völkerrecht gilt. D.h. es kann auch nicht durch veränderte Staatenpraxis oder Verträge einfach ausgehebelt werden. Darunter fallen z.B. schwere Menschenrechtsverletzungen und das grundsätzliche Verbot von Angriffskriegen.