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QuelleHinter dem rasanten Aufstieg Chinas steckt ein gnadenloser Wettbewerb um Jobs und Geld, der das Milliardenvolk unter enormen Stress setzt. Die neuen Freiheiten, die junge Menschen in den Städten genießen, haben einen hohen Preis.
Von Jochen Graebert, ARD-Studio Peking
Ein Internet-Café in Peking. Hier ballern schon die Kids. Manche drei Stunden, andere vier Stunden lang, viele bis in die Nacht. Illegal natürlich, denn laut Gesetz haben nur Erwachsene Zutritt. Aber wen kümmert das schon in den Cafés, in denen Chinas Jugend abtaucht in andere Welten. Cyberspace-Junkies, selbst beim Essen immer online. Nach klinischen Kriterien: süchtig. Ihre Droge: Computerspiele im Internet.
Antreten zum Entzug
Im Militärkrankenhaus Nr. 6 treten chinesische Jungs, 14 bis 16 Jahre alt, zur Entziehungskur an. Ihre Eltern haben sie eingeliefert, nun sollen sie zurückkehren ins reale Leben. Li Zhao Dun ist 16 Jahre alt, er kann nachts nicht mehr schlafen. Eine typische Entzugserscheinung. Jeden Tag erhält er deshalb elektrische Stimulationen. Sie sollen brachliegende Teile seines Nervensystems reaktivieren.
Li Zhao Dun erklärt, warum er eingewiesen wurde: "Ich habe mich dauernd mit meinen Eltern gestritten, weil sie gehört hatten, wie gefährlich Internetspiele für Kinder sein sollen. Lass den Computer, mach Hausaufgaben, hieß es immer. Doch in der Schule hatte ich nur Stress. Sie gehört zu den besten in unserer Stadt, da wird ständig gesiebt. Jeder kämpft gegen jeden, um ganz vorne zu landen."
Der Leistungsdruck treibt Chinesen in virtuelle Welten
Tao Ran, Militärarzt, will die Kinder von ihrer Sucht befreien. Zhao Dun fällt es schwer, seine Sucht einzugestehen. Er ist, wie fast alle Altersgenossen in China, ein Einzelkind. Die hohen Erwartungen chinesischer Eltern, sagt der Arzt, sei eine Hauptursache der Internetsucht: "Diese Kinder kommunizieren nur noch mit dem Computer. Sie ignorieren die Außenwelt und spalten sich in zwei Personen: Die eine lebt in der realen, die andere in der virtuellen Welt. Manche glauben sogar, dass sie nach dem Tod in den Spielen weiterleben. In Tianjin hat sich kürzlich ein Kind umgebracht, weil es hoffte, eine Internet-Figur zu werden."
Schüler und Studenten besonders gefährdet
In China stehen Maos Urenkel unter brutalem Leistungsdruck. Bildung ist teuer und die Angst groß, zu versagen, das Gesicht zu verlieren im knallharten Auslese-Wettbewerb. Der Wirtschaftsboom spaltet das Milliardenvolk in Gewinner und Verlierer. In den Großstädten ist bereits jeder achte Chinese unter 30 süchtig. Besonders gefährdet: Schüler und Studenten. Je höher der Lernstress, desto größer die Sehnsucht nach der virtuellen Parallelwelt.
Vom virtuellem zum realen Killer
Auch er flüchtete online, vier Jahre lang: Qing Gang wurde von seinen Eltern eingeliefert, als er versuchte, einen Klassenkameraden mit dem Messer zu erstechen. Er hat die Therapie bald hinter sich: "Das Internet ist doch nicht die Ursache. Der Druck in der Schule und zu Hause, der ist einfach zu groß. Und ich stand immer allein gegen meine Eltern, Geschwister haben wir Teenager ja nicht. Das einzige, was ich von meinen Eltern hörte, war: Pauken, pauken! Du musst es schaffen! Nur im Internet hatte ich meine Ruhe."
Bedenkliche Geheimmethoden bei Entzug
80 Prozent der Patienten, sagen die Ärzte, schaffen hier den Ausstieg. Langsam kehren die Jungs zurück von einer langen und gefährlichen Reise in die virtuelle Welt des Internet. Der Cocktail, der Zhao Dun täglich injiziert wird, ist Militärgeheimnis. Man habe, sagen die Ärzte, verschiedene Medikationen entwickelt, gegen Spielsucht, aber auch gegen religiösen Übereifer. Das klingt beunruhigend in einem Land wie China.
Die Behandlung kostet ein Vermögen
Aber die verzweifelten Eltern stehen hier Schlange, sie wissen keinen anderen Ausweg mehr, als ihre Kinder den staatlichen Behörden anzuvertrauen. Rund 1000 Euro kostet die Behandlung, viel Geld für chinesische Familien. Wang Yang, Mutter eines Internetsüchtigen, erklärt, warum sie sich für dafür entschieden hat: "Erst jetzt weiß ich, dass wir unsere Kinder falsch erziehen. Zu Hause, in der Schule, in der Gesellschaft, überall hat man viel zuviel von ihnen erwartet. Ich habe furchtbar gelitten, als ich erkannt habe, dass mein Sohn süchtig ist. Kinder wie er werden plötzlich ganz kalt, zeigen kaum noch Gefühle und werden sogar gewalttätig gegen ihre Eltern."
Tod vor dem Monitor
Kürzlich haben Internet-Spieler in China sogar eine Mitspielerin beerdigt, online versteht sich. Die junge Frau war vor ihrem Computer tot zusammengebrochen, nachdem sie tagelang versucht hatte, den "Schwarzen Drachenprinz" in diesem Computer-Spiel zu töten. Und ein paar Monate zuvor wurde ein junger Mann zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er seinen Mitspieler erstochen hatte. Der Grund: Die beiden hatten über ein Drachenschwert in diesem Online-Spiel gestritten.
Im Cyberspace gibt es keine Regeln
Militärarzt Tao Ran kennt noch weitere Symptome: "Besonders erschreckend ist der Verlust von moralischen Werten. Die Zahl der Gewalttäter unter internetsüchtigen Jugendlichen ist extrem hoch. Alle leiden unter Zerstörungswut, und jeder dritte unserer Patienten hat sogar seine Eltern angegriffen. Denn im Cyberspace ist alles erlaubt, Recht und Moral existieren dort nicht. Alles ist verfügbar, Frauen, Macht, Ruhm und Geld."
Ein Ex-Junkie klärt auf
Cheng Yue, Chinas Top-Internetspieler, ein Star der Cyberspace-Szene und Ex-Internetjunkie, erklärt den Ärzten die virtuelle Welt des Internet. Wir wollen mehr wissen über diese Spiele, sagt Doktor Tao, sonst können wir die Sucht nicht wirklich verstehen: "Die Anbieter", klärt Cheng seine Zuhörer auf, "arbeiten ganz gezielt mit Suchteffekten. Sie designen ihre Produkte so, dass der Spieler möglichst lange dabeibleiben muss. Denn je länger er online ist, desto mehr verdienen sie."
Das Zeitalter der Globalisierung jeder gegen jeden, kein Wunder das so viele Menschen Internet-süchtig werden wenn man sie so unter Druck setzt.
Was meint ihr dazu?